Bulgarien

Generalabrechnung in Sofia

Das hatte sich Bulgariens Staatspräsident Rossen Plevneliev anders vorgestellt: Zu Fuß und leger gekleidet hatte er sich umgeben von Leibwächtern am Sonntagvormittag zu den Protestierenden vor dem Wirtschaftsministerium begeben. Er wollte einige Worte der moralischen Unterstützung an sie richten. Doch die Demonstranten pfiffen ihn aus und beleidigten ihn sogar.

„Ich danke Ihnen für Ihre staatsbürgerliche Position“, rief Plevneliev mit militärischem Tonfall gegen den Lärm an. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir ihre Forderungen überreicht haben und lade sie für kommende Woche ein zum Gespräch“.


Gegen den Ausverkauf des Landes

Plevnelievs Grußadresse ist kurz. Sie muss dem Staatsoberhaupt klar gemacht haben, dass auch er in den Augen des aufmüpfigen Volks zu jener Politikerkaste gehört, gegen die sich der Protest inzwischen eindeutig richtet. Was vor zwei Wochen mit Unmut über hohe Stromrechnungen begann und am vergangenen Mittwoch zum Rücktritt des Kabinetts Boiko Borissov führte, ist zu einer Generalabrechnung mit Bulgariens politischem System geworden.

„Sie haben Bulgarien verkauft“, steht auf einem Transparent, das die Demonstranten vom Staatspräsidium über die Bulgarische Volksversammlung bis zur Adlerbrücke vor sich her tragen. Insgesamt protestieren rund 25.000 Bulgaren. Das Transparent zeigt das Parlamentsgebäude und alle Parteien, die in den Jahren seit dem Fall des Kommunismus 1989 politische Verantwortung getragen haben: BSP, SDS, DSB, NDSW, GERB und sogar RSS und Ataka, die beiden einzigen, nie direkt an einer Regierung beteiligtеn Parteien.

Die politische Botschaft des Transparents dürfte mehrheitsfähig sein unter den hunderttausenden Demonstranten, die am Sonntag durch Sofia und viele weitere bulgarische Städte zogen. Längst fordern sie nicht mehr nur die Korrektur überhöhter Stromrechnungen, sondern einen Systemwechsel.


Die Adlerbrücke als Symbol des Ungehorsams

„Wechsel des Wahlsystems vom proportionalen zum mehrheitlichen“, auf diese Forderung haben sich die Repräsentanten der Protestbewegung am Samstag auf nationalen Koordinierungstreffen in der Stadt Sliven und Sofia verständigt. Staatsbürgerlicher Kontrolle, so die dahinter stehende Idee, soll Volksvertreter künftig daran hindern, „zu tun und lassen, was sie wollen und Bulgarien auszuplündern“.

Die Adlerbrücke in Sofia ist schon im vergangenen Sommer zum Sammelpunkt und Symbol staatsbürgerlichen Ungehorsams geworden. Mit der Blockade der historischen, für den Sofioter Verkehr strategisch wichtigen Brücke gelang es damals jungen Umweltschützern, ein von ihnen als lobbyistisch kritisiertes Waldgesetz zu Fall zu bringen, das ihrer Ansicht nach die weitere Zerstörung der bulgarischen Gebirge durch exzessiven Skipistenbau erlaubt hätte. Auch an diesem Sonntag war die Adlerbrücke Anlaufpunkt des Protestzugs.

„Zukunft für die Jugend!“, forderten auf der Brüstung der Brücke stehende Jugendliche mit ihrem Transparent. Sie sprachen damit die massenweise Abwanderung junger und gut ausgebildeter Bulgaren nach Westeuropa und Übersee an. Rund zwei Millionen Bürger hat das Balkanland in den vergangenen zwanzig Jahren verloren. „Wenn auch der letzte Bulgare gegangen ist, können die ausländischen Stromversorger das Licht ausknipsen“, macht ein sarkastischer Spruch dieser Tage die Runde.


Wie es weitergeht, scheint unklar

Wie es in Bulgarien politisch weitergeht, scheint unklar. Präsident Plenveliev wird den Parteien das Mandat zur Bildung einer Regierung bis zu den Parlamentswahlen im Juli 2013 antragen. Es wird erwartet, dass keine von ihnen das Kreuz tragen will und es deshalb zu einer von Nicht-Politikern gebildeten Übergangsregierung kommen muss, deren Aufgabe es sein wird, Neuwahlen für Mai vorzubereiten.

Inwieweit es der Protestbewegung gelingen wird, ihre Forderung nach Neuorganisierung des politischen Willensbildungsprozesses einzubringen, werden die kommenden Wochen zeigen. Eine die vergangenen Jahre dominierende politische Stimme fehlt in der gegenwärtigen politischen Kakophonie. Boiko Borissov, der Bulgarien mit seinem allzu plötzlichen Rücktritt in den politischen Ausnahmezustand geworfen hat, ist von der Bildfläche verschwunden und hörbar verstummt.


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