Ein Land blutet aus
„Ich bin in Chisinau zur Welt gekommen und ein Moldauer, aber du bist ein Rumäne“, sagt der vierjährige Evo zu seinem kleinen Bruder Simon, der bereits in der rumänischen Hauptstadt Bukarest geboren wurde. Ein sanfter Boxstoß lässt verstehen, dass Evo nicht viel von Rumänien hält. Hätte der kleine Bub die Entscheidung für die Familie Lupascu treffen dürfen, sie wäre wohl in Chisinau geblieben.
Entschieden haben aber die Erwachsenen. Nur wenige Monate liegen zwischen den beiden Geschwistern, wenige Monate, in denen eine weitere Familie beschlossen hat, ihre Heimat, die Republik Moldau zu verlassen.
Früher war Moldau eine reiche Sowjetrepublik
Moldau war vor dem Zusammenbruch des Ostblocks eine reiche Sowjetrepublik. Heute kommen dem Land die Menschen abhanden. Schätzungen zufolge haben bis zu 700.000 Menschen die kleine Republik mit insgesamt noch 3,5 Millionen Bewohnern verlassen.
Zu Sowjetzeiten versorgte Moldau die halbe UdSSR mit Wein, Fleisch und Gemüse. Heute sind – zynisch gesprochen – die Menschen das wichtigste Exportgut des Landes. Die immer noch bedeutenden Weinausfuhren benutzt die russische Seite, um die Regierung in der Hauptstadt Chisinau unter Druck zu setzen. So stellte Moskau im Sommer 2010 in den moldauischen Flaschen „Hygienemängel“ fest, konfiszierte die Ladungen und verhängte eine Handelssperre. Kurz zuvor war der damalige Interimspräsident Mihai Ghimpu auf Distanz zum ehemaligen großen Bruder gegangen und hatte den 28. Juni zum „Tag der sowjetischen Besatzung“ erklärt.
Ein Jahr zuvor im April entschloss sich Anastasia Lupascu gemeinsam mit ihrem Mann Max, nach Rumänien überzusiedeln. Den kleinen Evo im Kinderwagen, seinen jüngeren Bruder Simon im Bauch. Beide hatten an Protesten gegen angebliche Fälschung bei den Parlamentswahlen teilgenommen. „Ich habe schwanger bei einer Demonstration eine Rede gehalten. Meine Freunde haben mich nachher angefleht, mich von den Protesten fernzuhalten“, erzählt Anastasia. Da habe sie verstanden, dass sich in absehbarer Zeit in der Republik Moldau nichts ändern wird, so die 28-Jährige.
Weniger als 3.000 Dollar pro Jahr zum Leben
Das Nachbarland Rumänien biete ihr und ihrer Familie heute mehr Sicherheit, und ihrem Mann, einem Musiker, ein größeres Publikum. Und den Kindern eine kulturelle Identität, sagt Anastasia. Eine solche habe sich in Moldau zwischen den russischsprachigen und rumänischsprachigen Bewohnern aufgerieben. Eine dritte Gruppe, das Turkvolk der Gagausier, kämpft im Süden des Landes für den Erhalt der eigenen Tradition. Die einzelnen Gruppen in Moldau haben sich, sofern sie nicht nur russisch sprechen, auf ein Sprachgemisch geeinigt, das neben der rumänischen Sprache vielfach russische Ausdrücke beinhaltet. Diesen linguistischen Misch-Masch habe sie ihren Kindern ersparen wollen – und sich selbst eine zweite Entbindung im Krankenhaus von Chisinau, lacht sie.
Die meisten Moldauer suchen ihre Zukunft in Russland und der EU. Die Republik Moldau ist das Armenhaus Europas. Die Zahl derer, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, ist laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stark gestiegen. Es ist ein Berechnungsmodell für Verelendung, das gefühlt eher in Afrika und Asien ein Anwendungsgebiet findet. Ein Drittel der moldauischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, von 1.700 Gemeinden verfügen nur 200 über den Zugang zu funktionierender Infrastruktur für Trink-und Abwasser. Das Bruttonationaleinkommen pro Kopf beträgt magere 3.000 US-Dollar pro Jahr.
Nur die Kriminalität blüht
Der Wegzug trifft das Land politisch und wirtschaftlich: Es gibt keine Elite mehr, die das Land stabilisieren könnte. In den chaotischen und korrupten Strukturen hat sich die organisierte Kriminalität rund um Menschen- und Organhandel eingenistet.
Die Verwandten im Ausland sichern die Existenz derjenigen, die im Land bleiben. Deren Überweisungen liegen im internationalen Spitzenfeld: Rücküberweisungen von im Ausland verdienten Löhnen entsprechen rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach einem Bericht der Weltbank haben im Verhältnis 2009 nur die im Ausland lebende Tadschiken, Togolesen und Menschen aus Lesotho mehr Geld in die Heimat transferiert. Von dem Geld kaufen sich die Moldauer Lebensmittel und Importgüter. Zum Wirtschaftswachstum tragen die Summen nicht bei.
Die Lupascus hingegen haben die ersten zwei Jahre nach dem Umzug noch Geld aus Moldau erhalten und bilden damit eine Ausnahme. „Unsere Eltern haben uns unterstützt“, so Anastasia, deren Vater Unternehmer ist. Mittlerweile ist die kleine Familie auch in finanziellen Belangen in Rumänien angekommen. Ob sie bleiben werden? „Bukarest bietet uns alles, was wir brauchen. Fürs erste bleiben wir hier“, sagt die junge Frau.