Russland

„Überleben im Knäuel der Bürokratie”

„Ich möchte zuerst erklären, warum ich vors Zivilgericht gezogen bin und gegen die Vorwürfe gegen mich vorgehen will. Für Außenstehende, oder, wie man in der Zone sagt, von der Freiheit aus gesehen, wirkt es so, als wolle ich auf eine vorzeitige Haftentlassung hinaus. Doch ich mache mir keine Illusionen, ich weiß: In einem politischen Fall wie meinem über Formalitäten […] oder über eine vorzeitige Haftentlassung zu reden – das ist unsinnig. Deswegen bin ich nicht hier. Ich nehme an, wenn so viele Ungerechtigkeiten passiert sind, muss man mit den Leuten über den Status quo sprechen. Und der formale Ausgang dieses Prozesses – nämlich die Anerkennung, dass die Maßnahmen der Lagerverwaltung illegal sind – ist für mich gewissermaßen das Symbol für das, wonach ich strebe.

Ich nehme an, dass Gefängnisse den allgemeinen Status quo in Russland widerspiegeln. Wir alle wissen, was Nötigung, Machtlosigkeit und Rechtlosigkeit bedeuten. Im Lager ist jeder von Befehlen und Pflichten umgeben, je nachdem, ob man eine Uniform oder Gefangenenkleidung trägt. Innendrin herrschen Müdigkeit und Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Ich will nur daran erinnern, wie wir leben, wie wir im Lager vor uns hin existieren, damit nachher niemand sagen kann, er hätte es nicht gewusst. […]


Man hat immer eine Wahl

Was ich sagen will: Man hat eine Wahl, eine Freiheit der Wahl, was die Taten eines jeden Menschen angeht. Sei es ein Verurteilter, ein Verwaltungsmitarbeiter oder das Gericht – man hat immer eine Wahl zwischen einer ungerechten und einer gerechten Entscheidung. Hier im Lager gibt es viele Verurteilte, die sehr gerne darüber sprechen würden, dass sie mit den Maßnahmen der Lagerverwaltung nicht einverstanden sind. Aber diese Verurteilten haben erstens Angst und zweitens wissen sie oft nicht, wie das von statten gehen soll. Ihnen hat niemand erklärt, dass man gegen das Vorgehen der Lagerverwaltung vors Gericht ziehen kann. Niemand sagt uns das, diese Tatsache wird völlig verschwiegen.

Und wenn sich dann doch einer der Verurteilten an die Staatsanwaltschaft wendet, um gegen die Verwaltung vorzugehen, passiert folgendes: Es kommen welche, um die Sache zu prüfen, und auf wundersame Weise stellt man fest, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Meist schaffen es die Beschwerden nicht einmal aus dem Lager.


Die Norm ist ein verbrecherischer Begriff

Bei uns im Besserungslager Nr. 28 gibt es sehr Viele, die wegen Drogendelikten verurteilt wurden und sehr viele Drogenabhängige. Viele nehmen praktisch von Kindheit an Drogen. Clean zu werden – das wünschen sie sich. […] Den ganzen Winter lang haben sie Schnee geräumt und zu einem Haufen aufgetürmt, um im Frühling diesen Schneehaufen wieder abzutragen. Und hier im Lager nennt man das Arbeit. Es ist eine Aneinanderreihung von Handlungen von minimalem Nutzen und maximaler Belastung – und kein Verurteilter darf sich weigern, mitzumachen. […]

Das Problem ist die Herstellung der Norm. Die Norm ist in Russland eine universelle Kategorie und ein verbrecherischer psychologischer Fachbegriff. Menschen erfüllen die Norm, sie befolgen die Norm, sie erben die Norm. Die Norm ist eine Machtordnung, wie man bei uns im Frauenlager sagt.

Diese Ordnung, in deren Rahmen sowohl die Verurteilten als auch die Verwaltung agieren, gefällt niemandem, glauben Sie mir das. Alle hätten es ohne sie viel leichter. Und ich will nicht sagen, es ginge ganz ohne Ordnung. Ich will lediglich die Tatsache unterstreichen, dass diese Ordnung dringend einer Veränderung bedarf. 


Pussy-Riot-Mitglied Maria Aljochina war nach einer Putin-kritischen Performance in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau 2012 zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Derzeit sitzt sie in Einzelhaft, da ihr laut Gefängnisleitung Gefahr durch die Mithäftlinge drohe.

Die hier veröffentlichte Rede hielt Aljochina in einem Prozesses vor einem Zivilgericht in der Region Perm am 7. Februar 2013. Das Gericht hob anschließend zwei juristische Rügen auf, die Alechina zu spätes Aufstehen und Unfreundlichkeit gegenüber dem Gefängnispersonal vorwarfen.

Zwei weitere Rügen wurden allerdings aufrechterhalten. Sie sind deshalb von Bedeutung, weil sie eine Haftentlassung auf Bewährung unmöglich machen. Die Anwältin der 24-jährigen Aljochina kündigte an, gegen die noch bestehenden Rügen formale Beschwerde einzulegen.


Warum? Erstens, weil diese Ordnung, all diese Regeln, die Vollzugsregeln, nicht auf die Entwicklung und Förderung der Persönlichkeit gerichtet sind. Im Gegenteil, sie sind eine bürokratische Prozedur, ein bürokratisches Knäuel, in das alle Beteiligten verstrickt sind. In diesem Knäuel bleibt der Mensch stecken. Er sieht sich dazu genötigt, nicht zu leben, sondern zu überleben.


Ein System der Angst

[…] Die Tatsache, ob ein Häftling, ein Verurteilter, 15 Minuten später oder früher aufsteht, verändert nichts, von seinem psychischen Zustand mal abgesehen. Und die darauffolgenden Prozeduren, speziell die Disziplinarkommission, erzeugen einen großen Stress. 

[…] Und das ist der springende Punkt: Die Gefängnisverwaltung manipuliert die Verurteilten mit der Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung. Und diese Manipulation basiert auf Angst. Sie führt dazu, dass die Verurteilten sich verschließen, dass sie neidisch, böse und heuchlerisch werden. Am Ende haben wir eine Gesellschaft des Ressentiments in einem von Stacheldraht umzäunten Areal. Und dieses System hat nichts mit „Besserung“ oder „Resozialisierung“ zu tun.


Wir müssen „Stopp“ sagen

Ich will sagen, dass wir irgendwann einfach aufhören müssen. Wir alle müssen gemeinsam „Stopp“ sagen zu diesem System […]. Die Prozedur der vorzeitigen Haftentlassung, das sind nicht nur Buchstaben. […] Sondern Menschen werden in dieser Zeit gebrochen, gesundheitlich und moralisch, sie können nicht mehr. Weil die Niedertracht und der Verrat alles übersteigen, was sie hätten aushalten können. Ja, man kann stärker werden, man kann immer mehr ertragen, man kann berechnender werden. Aber diese Eigenschaften – Ertragen und Berechnung – helfen einem Mensch nicht, sich von seiner Sucht zu befreien – von einer Drogen- oder Alkoholsucht, unter der die meisten Verurteilten im Gefangenenlager Nr. 28 leiden.


Ein Ort, wo alles für einen entschieden wird

Der intellektuelle und moralische Niedergang trägt dazu bei, dass man hinter den Stacheldraht zurückkehrt. Es gibt Menschen im Lager, für die das Gefängnis ein Zuhause ist. Sie kennen und wollen kein anderes Leben. Sie kommen zurück. Sie kommen zurück an einen Ort, wo alles für sie entschieden wird. Man wird ihnen alles zeigen, man wird sie vor die Nähmaschine setzen, und dann sitzen sie da und nähen acht oder zwölf Stunden am Tag Uniformen. Dann gibt man ihnen einen Spaten. Und später, vielleicht in ein - zwei Jahren, wird man es ihnen vielleicht etwas gönnen, zur Ermutigung. 

Es gibt diese unausgesprochenen Boni, die einen Häftling als privilegiert gelten lassen. Zum Beispiel bekommt er eine Jacke in einer anderen Farbe als die anderen. Oder er schläft nicht auf der oberen Pritsche, sondern auf der unteren. Diese Dinge gesteht man ihm zu, aber sie helfen ihm nicht bei seiner Persönlichkeitsentwicklung. Es sind Kleinigkeiten, aber hier beruht alles auf diesen Kleinigkeiten. 

Ich will sagen, dass der Spaten einem Verurteilten kein Bild davon vermittelt, wozu das Gesetz gut ist. Der Spaten zeigt ihm nicht, dass in demokratischen Ländern das Gesetz auf den Anforderungen und den Bedürfnissen der Gesellschaft beruht. 

Ich bin ein Mensch, dem Rebellion eigen ist, ein Mensch, der sein ganzes Leben lang mit der Kunst verbunden war. […] Da ich im Moment den Verurteilten-Status habe, wäre es nicht schlecht, jemand würde mir das Gesetz in Einzelheiten erörtern, statt diese vor mir zu verbergen.


Ich ziehe vor Gericht für alle, die sprachlos sind

Ich bin vors Gericht gezogen für alle, die rechtlos sind, für alle, die sprachlos sind, für alle, die sprachlos gemacht wurden von denen, die Macht haben. Und ich glaube, dass diese meine Tat irgendwie von Erfolg gekrönt sein wird, und dass wir in diesem Prozess siegen werden. […]

Der Philosoph Heidegger sagte, die Sprache sei das Haus des Seins. Das Sein in der Sprache des Strafvollzugs, der Sprache von Verordnungen, Strafen und Akten, ist ein Albtraum. Und ich fühle das bei diesem Gerichtsprozess, ich gehe hier ein. Ich brauche Selbstentfaltung, ich muss meine Berufung ausleben können. Ich will so schnell wie möglich rauskommen und endlich all das tun. 

Ich glaube, dass es aufhören wird, dass man Verurteilte zu Opfern macht. Ich erkenne natürlich die Tatsache an, dass die Entscheidung des Gerichts bereits gefällt wurde, und vielleicht nicht zu unseren Gunsten. 

Dank diesem Prozess, dank dieser Woche, die ich durchlebt habe, werden es die Mitarbeiter der Verwaltung vielleicht begreifen: Wir sind Menschen und Gefangenenkleidung tut nichts zur Sache. Wir sind Menschen. Das ist alles.“

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin

Hier lesen Sie die gesamte Rede im russischen Original


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