Verbotene Küsse in Moskau
Seine Schritte sind schnell, seine Bewegungen zackig. Wenn er spricht, dann überschlagen sich seine Worte, er dreht sich immer wieder herum. Niemand da, der ihn erkennen könnte? Alexej verhält sich, als wäre er auf der Flucht, als hätte er ein Verbrechen begangen. Fotografiert werden will er nicht, auch sein voller Name soll nicht in der Zeitung stehen, und sei es eine ausländische. Alexej, der Verängstigte, Getriebene. Der Schwule. In Moskau.
In den Augen vieler Russen ist er tatsächlich ein Verbrecher. Wie ein Dieb, wie so manche sagen, wie ein Mörder. Einer, der seine Sünden zur Schau stelle, ein „Genozid an der Moral“ verübe. Ein Kranker, der „mit Beten und Fasten geheilt werden“ könne, eine „Massenvernichtungswaffe des Westens“.
Politiker, Kirchenobere, verschiedene Organisationen haben für Alexej alle möglichen Schlagworte gefunden, mit denen sie in einen Kampf ziehen – gegen alles, was in ihren Augen „abnorm“ ist, gegen die „Unverschämtheit“ und „flegelhafte Einstellung“ von Homosexuellen, wie es der St. Petersburger Lokalpolitiker Witali Milonow nennt. Denn, oh Himmel, „Russland droht ein toleranter, westlicher Staat zu werden“, wie es der radikale Moskauer Priester Sergej Rybko von sich gibt.
Die Menschheit müsse vor solcher „Freizügigkeit“ geschützt werden, zumindest die russische Gesellschaft. Und auch die Homosexuellen selbst müsse man „absichern“. Nichts anderes hätten die Parlamentarier im Sinn, die sich für das Verbot gegen „Propaganda der nicht traditionellen Orientierung“ – so sprechen Russlands Politiker über die Homosexualität – einsetzen. „Öffentliche Handlungen, die gerichtet sind auf die Propagierung von Sodomie, Lesbentum, Bisexualität und Transgendertum vor Minderjährigen“ werden nun in Russland verboten.
Die Duma, Russlands Parlament, nahm am Dienstag die Gesetzesvorlage mit der Nummer 44554-6 und dem Namen „Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Informationen, die schädlich sind für ihre Gesundheit und Entwicklung“ gleich in der zweiten und dritten Lesung an. Vor dem Gebäude versammelten sich Gegner und Befürworter des Gesetzes, das in mehreren Städten Russlands auf der kommunalen Ebene seit Monaten existiert. Die Polizei nahm mindestens 20 Menschen fest.
Küssen in der Öffentlichkeit – wenn es zwei Männer oder zwei Frauen tun – ist dann verboten, das Schwenken der Regenbogenfahne ebenso wie jedes Reden über die Homosexualität vor Kindern und Jugendlichen. Die Strafen reichen dabei von umgerechnet 125 Euro bis 25.000 Euro. Ausländer werden des Landes verwiesen oder kommen 15 Tage in Haft. Der Staat stempelt einen Teil seiner Menschen zu solchen ab, die nicht mehr genannt werden dürfen. Er drängt sie ab aus der Teilhabe an der Gesellschaft, die eigentlich vielfältig ist, sich aber immer noch hochgradig intolerant gibt. Rund 74 Prozent der Russen, so die Befragung des Lewada-Zentrums in Moskau, halten Homosexualität für eine „geistige Behinderung“.
Alexej, 29 Jahre alt ist er jetzt, begegnet solchen Vorhaltungen nur noch mit Zynismus. Er hat sie oft gehört, an der Uni, auf der Straße, auch in der eigenen Familie, ein Onkel habe ihn in eine Klinik einweisen wollen. Er redet nicht gern darüber. Er wolle „einfach ein normales Leben führen – mit Liebe, Job, Wohnung“. Doch eben „die Liebe“ führe ihn in ein Leben voller Vorkehrungen. Dem Vermieter erzähle er, er wohne mit einem Arbeitskollegen zusammen. Im Büro wüssten nur wenige, dass er einen Mann liebt, viele wollten ihn oft mit Frauen verkuppeln. „Du wirst zur Heuchelei verdammt, und diese Heuchelei macht dich wahnsinnig. Darf ich nicht mehr mit meinen kleinen Nichten Eis essen gehen, nur weil mein Freund dabei ist? Schädige ich sie für den Rest des Lebens?“ Alexej redet sich in Rage, weil das „Propaganda-Gesetz“ ihn traurig mache, wütend, ohnmächtig. Ein Gesetz, das mehr Fragen aufwirft als es beantwortet. „Was wird eigentlich aus dem sozialistischen Bruderkuss?“, fragt ein Blogger. „Dürfen Kinder in der Schule keine Regenbogen mehr malen?“, ein anderer.
Alexej, der IT-Mann, will ein „ehrliches Leben“ und ist doch gezwungen, im Ungefähren zu bleiben. Immer auf der Hut. „Sicherheit? Wenn ich bespuckt und getreten werde, nur weil ich mit meinem Freund auf der Straße laufe, müssen nicht die anderen auf die Wache, sondern wir – weil wir angeblich die öffentliche Ordnung stören. Also bleibe ich lieber im Versteck. In Moskau geht das gut, aber in der Provinz?“