Stalingrad: Die ewige Schlacht
Der Rote Stern prangt auf den Plakaten, ein Soldat hält eine Pistole in die Luft, zerbombte Häuser, eine Medaille, Befehle. Es sind Reliquien-Abbilder des Zweiten Weltkrieges, des Großen Vaterländischen Krieges, wie die Russen sagen. Alle paar Meter stehen die Andenken an die Schlacht von Stalingrad nun im Zentrum Wolgograds, wie die Stadt seit 1961 heißt.
Stilisierte Erinnerungen an das Massengrab zwischen Häusern und Hügeln. Die Schlacht brachte 700.000 Tote und zwei Mythen, mindestens: vom ersten Schritt Richtung Berlin (Sowjetunion) und vom Opfergang der 6. Armee (Deutschland). Wolgograd rüstet sich für seine Feier von „70 Jahre Sieg“ in der Wendeschlacht des Krieges und kämpft in diesen Tagen vor allem mit vereisten Straßen, Nebel, Dreck. Niemand, der hier keine persönliche Geschichte erzählen könnte, über die Schlacht, den Krieg, über sein Stalingrad.
Die Schule befeuerte den Deutschen-Hass
Es gibt da ein Bild, in Schwarz-Weiß, ordentlich aufgeklebt in einem Album. Zwei Jungen an der Schleifmaschine, als Beobachter eingesetzt. Nikolai Orlow hat einiges ordentlich aufgeklebt in seinen Alben. Passierscheine, Liebesbriefe, Zeitungsausschnitte. Das Damals und das Heute, das der 86-Jährige aufbewahrt. Das Leben des „Kolik“, so rufen ihn seine Freunde, seine Frau. Er nennt sich bis heute einen „Tschekist“. Sein Leben – vom armen Bauernjungen bis zum NKWD-Abteilungschef in seiner Stadt, dem sowjetischen Geheimdienstler. Ein Leben, vom Zweiten Weltkrieg geprägt, in das Orlow als 16-Jähriger hineingerät, voller Leidenschaft, die Deutschen zu töten.
„Einen nach dem anderen abknallen“, wie er heute sagt, in seiner Dreizimmerwohnung, mit rotem Teppich an der Wand und Büchern über Stalingrad in den Regalen. „Angetrieben von der Schule, der Ideologie, vom Hass auf die Faschisten. Fast zerrieben in diesem Wahn.“ Es ist der Krieg, der ihn gebraucht, missbraucht, zum gnadenlosen Unterdrücker gegen vermeintliche Feiglinge und Vaterlandsverräter macht. „Ich war so klein, schmal, konnte mich gut als Waise verkaufen, Deutsche ausspionieren und unsere Leute, die die Seiten wechselten“, erzählt er. „Der erste Tote jagt dir noch Angst ein, der erste Deutsche. Mit der Zeit aber wirst du gleichgültig“, sagt er, der immer noch in Schulen auftritt und als Veteran vom Kampf in Stalingrad erzählt, seiner Geburtsstadt.
Die Wehrmacht hisste schon die SS-Fahnen
23. August 1942: Gegen 18 Uhr bombardieren etwa 600 Flieger die Stadt, die einst Zarizyn hieß, nach dem Fluß Zariza benannt, und seit 1925 den Namen Stalins trägt. Tausende von Zivilisten sterben, die Stadt steht in Flammen, die Menschen fragen sich, warum sie niemand evakuiert. Knapp 300.000 Einwohner hat das Industriezentrum an der Wolga, am Ende werden nicht einmal 8.000 Überlebende bleiben. Die Versorgung ist knapp, an Waffen fehlt es ebenfalls. Stalingrad soll im Vernichtungskrieg Hitlers ausradiert werden, ganz en passant. Die sowjetischen Geheimdienstler verbreiten zusätzlich Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Der Kampf um jedes Haus beginnt. Die Wehrmacht hisst SS-Fahnen.
Maria Wolodina hat sich vorbereitet. Rückt die Brille zurecht, nimmt einen Zettel in die Hand. Ihre Notizen, mit irgendwelchen Daten, Namen, Orten. Sie liest einfach nur ab. Kurz schaut sie auf und verkriecht sich sogleich hinter ihre Aufzeichnungen, an denen sie sich festhält, die sie hundertfach erzählt hat, in Variationen. Jede Frage bügelt sie ab: „Dazu komme ich später“, sagt sie dann und kommt doch nie „dazu“. Es ist ihre Geschichte, geformt durch Erlebtes, verformt durch Gehörtes, Gesehenes, Gelesenes.
Minus 43 Grad
Maria Wolodina ist ein „Kind Stalingrads“, eine alte Dame von 84 Jahren und kleinem Wuchs. In einer Ecke ihrer Zweizimmerwohnung am Zentrumsrand von Wolgograd stehen Ikonen, das Beten habe sie im Krieg gelernt, von der Nachbarin, als die ersten Bomben fielen. „Ich war so neugierig – auf alles, die abgeschossenen Flugzeuge, das Blut, die Deutschen. Und von Angst getrieben.“ 14 Jahre alt war Maria Wolodina, als der Krieg kam und dem Mädchen Marusja, wie die Familie es nannte, den Vater nahm.
Im November 1942 bricht der Winter an der Wolga herein, es sind bis zu Minus 43 Grad. Die sowjetische Heeresmacht, eine politische Armee, ist getrieben vom Zukunftsoptimismus, von der Akzeptanz der Gewalt gegen sich und andere. Stalin fordert im Ukas Nummer 227 „Keinen Schritt zurück“. Jeder, der doch weicht, wird auf der Stelle erschossen. Die Rotarmisten kreisen die Deutschen ein. Die 6. Armee des Generalobersts Friedrich Paulus erfriert und verhungert im Kessel. Am 2. Februar 1943 kapitulieren die Deutschen. Von den 230.000 Wehrmachtsoldaten kehren 5.000 aus Stalingrad zurück, die letzten 1955. Sowjetrussland hat sich zu Tode gesiegt.
Auf dem Mamajew-Hügel, hunderte von Treppen führen zu diesem einst hart erkämpften Gebiet im Norden der Stadt hinauf, ertönt Marschmusik. Überdimensionierte Kämpfer aus Beton, mit muskulöser Brust, wehendem Haar, Gewehr im Arm, bewachen den Platz. Es ist eine Ruhestätte, die keine Ruhe bietet, sondern patriotischen Gesang und Stalin-Büsten. Auf dem Gipfel erhebt sich die „Mutter Heimat“, mit offenem Mund und Schwert in der Hand, 87 Meter hoch. Sowjetische Ideologie, zu Stein gegossen.
481 Überlebende gibt es noch
Es ist eine monumentale Erinnerung, wie sie auch im Panorama-Museum, der zentralen Ausstellung im Stadtzentrum, gepflegt wird. Ein Heroismus, der bis weit in die 1990-er Jahre hinein weder Feind noch Volk in die Vitrinen brachte.
„Es ist ein extrem einseitiger Ansatz, eine Sicht nach sowjetischer Ideologie, und die Mehrheit in der Stadt hinterfragt diesen Ansatz nicht“, sagt Artur Dschaginow, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit einigen Kollegen für das „Schließen weißer Flecke“ kämpft. Vorsichtig übt er Kritik am Konzept der Ausstellung, doch ändern kann er es nicht. Erst seit einigen Jahren zeigt das Haus Exponate, die das Leid der Zivilbevölkerung dokumentieren, Bilder von Ausgemergelten, Verletzten. „Spärlich“, sagt selbst der Museumsmitarbeiter und erklärt sich die unkritische Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit mit der starken Veteranenvereinigung in der Stadt.
481 Schlacht-Überlebende gibt es noch in Wolgograd, die meisten gebrechlich und krank. Dennoch: „Schon allein, wenn ein Foto mit einem abgeschnittenen Arm der ,Mutter Heimat‘ auftaucht, beschimpfen sie uns als Verräter und Dummköpfe. Sie würden uns schlagen, wenn wir eine andere Sicht auf die Geschichte ausstellen würden“, meint Artur Dschaginow.
Es ist nicht leicht mit der Erinnerung in dieser Stadt. Einer Erinnerung, die jeder für sich selbst geformt hat. Bruchstücke, heldenhaft, beklemmend.