Ukraine

Celans vergessene Heimat

Der Morgen im Hotel „Bukowina“ beginnt mit Poesie, verpackt in russischen Pop. „Im Herbst fallen die Blätter, wohin sie wollen“, haucht eine leicht bekleidete Schönheit auf dem Fernsehbildschirm im Speisesaal. Mit israelischen, deutschen, polnischen und rumänischen Poeten sitzt Oksana Sabuschko, die ukrainische Dichterfürstin, beim Frühstück. Später, auf der Bühne, wird sie empört von dieser frühmorgendlichen Qual sprechen und vorschlagen, statt mit russischem Pop solle man die Menschen lieber täglich mit Poesie beschallen. Mit ihrer zum Beispiel.

Mythos Czernowitz, Heimat von Paul Celan, Rose Ausländer und Gregor von Rezzori, in Deutsch-Leistungskursen und Germanistik-Seminaren besungen, meist in Moll. Stadt am Fuß der Karpaten, die ihre Blütezeit erlebte, als sie 1849 im österreichisch-ungarischen Habsburgerreich zur Hauptstadt der Bukowina aufstieg, als es zehntausende Juden in die Stadt zog, als im jüdisch-polnisch-ukrainisch-rumänisch-deutschen Schmelztiegel die Poesie erblühte.


Der Weg ins Heute beginnt auf dem Friedhof

Von Dichtern besungen als „österreichisches Jerusalem“, als „blühendes Stücklein Europa in der halbasiatischen Kulturwüste“, verlor Czernowitz den Boden unter den Füßen mit dem Ende Österreich-Ungarns, die Freiheit mit dem ersten Einmarsch der Sowjets 1940, einen Großteil seiner Bevölkerung mit dem Holocaust.

Doch die Stadt in der Ukraine lebt, auch im Jahr 2012. Landessprachlich heißt sie jetzt Tscherniwzi. 50.000 Einwohner bevölkern die alte österreichisch-ungarische Hülle und hauchen ihr neues Leben ein. Zum Beispiel mit dem Poesiefestival „Meridian Czernowitz“, zu dem Sabuschko und ihre Kollegen in die Stadt gekommen sind.

Der Weg ins Heute beginnt auf dem jüdischen Friedhof, der mit 50.000 Gräbern einer der größten Europas ist. Aus den Fenstern der verfallenden Trauerhalle flattert Plastikfolie – sie kündet von den ergebnislosen Versuchen einer Renovierung. Drinnen werden die Bodenkacheln bewundert. „Sehen Sie: 100 Jahre konnten ihnen nichts anhaben“, sagt der Germanist und Übersetzer Peter Rychlo, und die Gruppe nickt anerkennend.


Die Stadt wird wiederentdeckt

Peter Rychlo erzählt beim Rundgang von Iosif Burg, dem letzten jiddischen Dichter, der kürzlich 96-jährig starb – und schon auf dem christlichen Friedhof begraben wurde, weil der jüdische inzwischen geschlossen ist. Dafür finden sich hier die Gräber von Mathias Zwilling und Rose Zuckermann, an deren Beispiel der deutsche Regisseur Volker Koepp 1999 einfühlsam die Geschichte von Czernowitz erzählte.

Inzwischen sind auch sie gestorben, und das jüdische Leben der Stadt ist praktisch erloschen. Vor 1940 gab es in Czernowitz zwei große und an die 70 kleinere Synagogen, fast die Hälfte der 140.000 Einwohner war jüdisch. Der Großteil wurde im Holocaust vernichtet, wer übrig blieb, wanderte unter Stalin aus. Den Platz der Czernowitzer Juden nahmen Schtetl-Juden aus Bessarabien und Russland ein. Auch sie reisten nach und nach aus, 1989 waren es noch 15.000, heute sind es keine 100 mehr.

Peter Rychlo, 62 Jahre alt, ist zum Expeditionsleiter bei der Wiederentdeckung der Stadt geworden. Der Germanist erzählt, wie überrascht er war, als er 1978 zum ersten Mal las, dass Paul Celan aus Czernowitz stammte. Ein Mantel des Schweigens umgab das deutsch-jüdische Erbe der Stadt. Seit dem Ende der Sowjetära hat Rychlo unzählige Artikel und Bücher über Czernowitz’ Erbe veröffentlicht, hat seinen Mitmenschen durch Übersetzungen ins Ukrainische die verloren geglaubten Dichter zugänglich gemacht und dafür gerade den deutschen Bundesverdienstorden erhalten.

Stundenlang kann man spazieren über das Kopfsteinpflaster dieser Stadt, die an vielen Stellen fast noch schöner ist als Wien, weil die betonglasstählerne Nachkriegsmoderne fehlt. Der wohl belebteste Ort der Stadt ist allerdings nicht ihr Zentrum, sondern der Kalinowskij-Markt am Nordrand, wo Großhändler alles feilbieten, was sich aus Containern heraus verkaufen lässt. In der Luft liegt das Aroma der Weintrauben aus den Gärten der Gründerzeitvillen, auf einem Straßenmarkt bieten Karpatenbauern Walnüsse an. Das riesige Areal ist mit 20.000 Verkäufern einer der größten Märkte der Ukraine, über die Landesgrenzen hinaus werden die Hochzeitskleider gerühmt, die hier genäht werden.


Das sowjetische Erbe findet man erst auf den zweiten Blick

Dass Czernowitz schön ist, wissen die Ukrainer, die die Stadt gerade zur „lebenswertesten“ des Landes gewählt haben. 2008, zur 600-Jahrfeier, putzte Czernowitz sich heraus, frischte das österreichische Erbe auf, ließ die Fassaden der Innenstadt in frischen Farben erstrahlen. An kaum einer Hausfront bröckelt der Putz, nur in den Höfen sieht es noch anders aus. Am Stadttheater künden Büsten von Wagner, Shakespeare, Schewtschenko, Haydn und Goethe vom bürgerlichen Ehrgeiz einer Stadt am Rand des Imperiums, die sich auf Augenhöhe sehen wollte mit Berlin und Wien. Durch einen Park in der Innenstadt schreitet neuerdings sogar ein bronzener Kaiser Franz Joseph, gestiftet von einem örtlichen Politiker.

Das sowjetische Erbe findet nur, wer danach sucht. Ein Panzer am Eingang zur Altstadt erinnert an die Befreiung der Stadt durch die Rote Armee, ebenso das Weltkriegsmahnmal am Sobornaja-Platz. Und natürlich die Plattenbaubezirke, in denen Rychlo und mit ihm der größte Teil der Stadtbewohner leben. Der Czernowitzer Alltag hat Gummifußboden und Wände aus Holzimitat, es riecht nach Arbeit, Schweiß und Öl.

Die Zeit, als das Deutsche hier lingua franca war, ist lange vorbei. Es folgte das Russische, aber davon will im Jahr 21 nach der ukrainischen Unabhängigkeit kaum einer mehr etwas hören, obwohl die meisten es beherrschen. Zum Poesiefestival ist kein einziger russischer Dichter eingeladen. Bleibt das Ukrainische. Die neue lingua franca macht Czernowitz seltsam provinziell. Eine „Barriere gegen die Propaganda der Kiewer Regierung, die alles russifizieren will“, solle das Festival sein, sagt Rychlo. Worte, die zu Czernowitz’ weltoffenem Geist nicht passen wollen. Einige internationale Gäste werden das betont ukrainischsprachige Festival am Ende enttäuscht verlassen, weil sie wenig verstanden haben, sich kaum austauschen konnten.


Flucht in die innere Emigration

„Mit dem Festival ist das lange 20. Jahrhundert von Czernowitz zu Ende gegangen“, wird der Stadthistoriker Sergej Ossajtschuk später sagen. Der Mythos lebt. Großen Anteil daran hat ein Zugereister: Der Schriftsteller Igor Pomeranzew, 64 Jahre alt, ist so etwas wie das Gesicht des Festivals. 2009 brachte er seinen Czernowitzer Neffen, der in der Wirtschaftskrise alles verloren hatte, auf die Idee, doch etwas mit der „Marke Czernowitz“ zu machen. Seitdem schmückt Pomeranzews bärtiges Konterfei die Internetseite des Festivals. In seinem Buch beschreibt Pomeranzew den „erotischen Schock“, den er nach dem Umzug seiner Familie aus dem „Schwarz-Weiß-Kino Sibirien“ in die Farbwelt der Bukowina erlebte. Die bourgeoisen Villen und Wiener Straßenzüge hätten ihm Modernismus und Individualismus eingeimpft. Das hatte weitreichende Folgen: Nach Problemen mit dem sowjetischen Geheimdienst emigrierte er 1978 nach München, später nach London.


Nach Czernowitz gelangt man am besten, indem man bis Lemberg fliegt. Von dort fahren Busse und Bahnen nach Czernowitz. Fahrtzeit etwa fünf Stunden. Auch Czernowitz verfügt über einen Flughafen, die einzige internationale Flugverbindung ist allerdings Timisoara in Rumänien.

Empfehlenswert ist das Hotel „Bukowina“.
Einfache DZ ab 30 Euro, Luxus-DZ 100 Euro.

http://bukovyna-hotel.com


Auch der kleine Bronislaw Tutelman sagt, dass er schon lange geflohen sei – in die innere Emigration. Seit Jahren fotografiert der Künstler seinen gusseisernen Balkon: Weintrauben unter Schnee, herbstrote Blätter, Knospen im Frühling. Tutelman, einer der wenigen übrig gebliebenen Czernowitzer Juden, geht auf die 70 zu. Mit Menschen wie ihm könnte die jüdische Geschichte der Stadt enden: 1990 ging sein Bruder nach Israel, 2000 sein Sohn.

Ukrainischer Nationalismus

Tutelmans Wohnung ist ein Sammelbecken der Geschichte: ein alter österreichischer Kachelofen, auf dem Sims eine Lenin-Büste und ein Franz Joseph, gegenüber eine sowjetische Schrankwand. „In meiner Jugend sprachen sogar die Straßenfeger Jiddisch“, sagt Tutelman. In die innere Emigration getrieben hat ihn der Auszug der Juden, aber auch der provinzielle ukrainische Nationalismus der letzten Jahre. Heute heiße das große Versprechen „Europa“. „Das kommt mir manchmal vor wie das Gerede vom baldigen Erreichen des Kommunismus“, scherzt Tutelman. „Wenn sich die Leute hier neue Fenster einsetzen lassen, nennen sie das ,Euro-Remont’. Aber mental sind wir weit weg von Europa. Die Nabelschnur, die uns mit der Vergangenheit verband, ist abgetrennt.“

Tutelman setzt auf die Jugend. Die unter „Euro“ mehr versteht als eine Wohnungsrenovierung, für die Czernowitz keine „Marke“ mehr sein muss, und das Russische kein Ausschlussfaktor. Aber das werde dauern. „Nicht ohne Grund“, sagt er zum Abschied, „hat Moses die Juden 40 Jahre durch die Wüste geführt.“


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