Polen

Kaum erträgliche Phantomschmerzen

Polen gilt als politisch stabilstes und wirtschaftlich erfolgreichstes Land im Osten Europas. Dennoch gibt es in dieser kulturell und konfessionell so einheitlichen Gesellschaft aus polnischen Katholiken einige ideologisch aufgeladene Themen, bei denen ein Funke genügt, um einen Flächenbrand zu entfachen. Die Flugzeugtragödie von Smolensk im Jahr 2010 gehört dazu, bei der Präsident Lech Kaczynski starb. Ein Drittel der Polen geht von einem Anschlag aus und will keine Argumente hören, die ein Unglück nahe legen.

Schuldfrage Holocaust

Ein ähnlich explosives Thema ist der Zweite Weltkrieg. Vor allem das Verhältnis zwischen Polen und Juden birgt bis heute viel Sprengstoff. Das mag überraschen, denn Polen hat seine meisten jüdischen Bürger längst verloren. Im Holocaust ermordeten die Nazis rund 90 Prozent der einst drei Millionen Juden im Land. Später machte sich im Kommunismus ein Klima des Antisemitismus breit. Viele weitere Juden verließen das Land. Ein reiches Leben starb ab. Doch in der Gesellschaft blieb ein Phantomschmerz zurück, wie ihn Menschen sonst nur nach der Amputation eines Körperteils spüren.

Der Verlust ist bis heute kaum erträglich. Das zeigen die Debatten, die das Land mit unguter Regelmäßigkeit erschüttern. Im Raum steht dabei stets die Frage: Hat die Mehrheit der christlichen Polen das massenhafte Morden der Nazis gebilligt oder sogar unterstützt? Schon wer diesen Satz so formuliert, rüttelt am Selbstverständnis der Polen als wichtigste Opfernation des Nazi-Terrors und des Weltkriegs.

Seit einigen Wochen tobt der Streit nun erneut mit unerbittlicher Schärfe. Anlass ist der Kinofilm „Poklosie“ (Nachlese) des Regisseurs Wladyslaw Pasikowski. Der Thriller erzählt in krassen Bildern die Geschichte des katholischen Bauern Josef Kalina (Maciej Stuhr), der in seinem Dorf die Spuren eines Massakers an Juden im Weltkrieg entdeckt. Seine Recherchen ergeben: Es waren die polnischen Landbewohner, die ohne Zutun der Deutschen ihre jüdischen Nachbarn ermordet haben. Die heutigen Dorfbewohner aber wollen nichts mehr von ihrer Schuld wissen. Sie terrorisieren Kalina und lynchen ihn.

Die in dem Film heraufbeschworenen Schrecken setzten sich nach der Premiere in polnischen Internetforen fort. Aufgebrachte Nutzer, die einen Verrat an der Nation witterten, verunglimpften Regisseur Pasikowski als „nützlichen Idioten unserer Feinde“. Andere Nutzer verstiegen sich zu der These, viele Juden hätten sich im Weltkrieg den Sowjets angeschlossen und Polen ermordet – eine Argumentation frei nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Debatte durchzieht alle gesellschaftlichen Schichten

Doch die Debatte hat längst die intellektuelle Elite des Landes erreicht und wird in den wichtigsten Medien ähnlich heftig geführt wie im Internet. Der nationalkonservative Publizist Piotr Semka kritisierte, dass die Schuld der Polen mit der unendlich viel größeren Schuld der Nazis vermischt werde. „Wir werden zu Mittätern des Holocaust.“ In der linksliberalen Zeitung „Gazeta Wyborcza“ versammeln sich dagegen die Verteidiger des Films. „Es geht nicht um Schuld, sondern um Trauer“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Graff. „Es geht darum, dass wir spüren, was der Verlust unserer jüdischen Nachbarn bedeutet.“

Neu sind die Argumente nicht. Pasikowskis Film spielt auf das Massaker in Jedwabne im Juli 1941 an, das die polnische Gesellschaft seit mehr als einem Jahrzehnt bewegt. In Jedwabne ermordeten polnische Dorfbewohner mehrere Hundert ihrer jüdischen Nachbarn – allerdings mit deutscher Beteiligung. Pogrome von Polen gegen Juden gab es im und nach dem Weltkrieg auch andernorts, etwa 1946 in Kielce, als rund 40 Menschen starben.

Der in den USA lebende polnisch-jüdische Historiker Jan Tomasz Gross hat diese Vorgänge in seinen Büchern „Nachbarn“ (2001), „Angst“ (2006) und „Goldene Ernte“ (2011) auf teils provokative Art aufgearbeitet. In Polen habe es im 20. Jahrhundert einen tief verwurzelten Antisemitismus gegeben, der den Nazis ihr Schreckenswerk erleichterte, lautet die zentrale These des Autors. „Im Grunde haben die Deutschen die Drecksarbeit für die Antisemiten in Polen und ganz Europa gemacht“, sagte Gross einmal im Gespräch mit dieser Zeitung.

Thema spaltet die Gesellschaft

Offen ist die Frage, ob Gross, Pasikowski und andere mit ihrer zugespitzten, mitunter auch überspitzten Argumentation der Sache selbst einen Gefallen tun. Unübersehbar ist, dass die Debatte über das Verhältnis zwischen Polen und Juden in diesen Wochen in eine Sphäre hinübergleitet, in der die „Sprache des Hasses“ regiert. Diesen Begriff benutzen Linksliberale und Nationalkonservative in Polen gleichermaßen, um die Polemik des politischen Gegners zu geißeln. Geholfen hat die wechselseitige Kritik nicht.

Im Gegenteil: Die polnische Gesellschaft zeigt sich zu Beginn des Jahres 2013 zutiefst gespalten. Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski hält Ministerpräsident Donald Tusk für einen Mittäter beim „Anschlag“ auf seinen Bruder in Smolensk. Und die „Gazeta Wyborcza“ kontert mit der absurden These: Kaczynskis „Smolensk-Lüge ist schlimmer als das Leugnen des Holocaust“.


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