Mein russisches Abenteuer
Als ich morgens aufwachte, war Moskau eine ferne Erinnerung. Im Bilderrahmen des Zugfensters hing ein Gemälde von monochromer Strenge, aus dem die nächtliche Fahrt jedes städtische Element getilgt hatte. Bleichgelbes Steppengras nahm die untere Bildhälfte ein, steingrauer Himmel die obere, scharf geteilt von der Messerklinge des Horizonts. Nur hin und wieder zogen Birken durchs Bild, Strohhalme in der Uferlosigkeit Eurasiens.
Sumpf, Gras, Birken
Ich war früh aufgewacht. Fast der gesamte Waggon schlief noch, allein mein graubärtiger Abteilnachbar nickte mir einen stummen Morgengruß zu. Er saß lesend am Fenster. Sein Buch hieß „Die Mörderin mit den zärtlichen Augen“. Die Schaffnerin brachte mir Tee. Ich blies kühlend über den Rand des Glases, während sich mein morgenstarrer Blick in der Unendlichkeit hinter dem Zugfenster verhakte.
„Sumpf und Gras und Birken“, sagte der Bärtige, der meine Gedanken erriet. „Bis kurz vor Nowosibirsk wirst du nichts anderes sehen. Wenn du so weit fährst.“
„Weiter. Bis Krasnojarsk.“
„Ich bin aus Nowosibirsk. Und du – bist nicht von hier?“
„Aus Deutschland.“
Er pfiff leise durch die Zähne. „Du hast den längeren Weg.“
Es begann der rituelle Handel, den ich so oft in russischen Zügen erlebt habe: deine Lebensgeschichte gegen meine. Wolodja war gebürtiger Sibirier. Er unterschied drei Gattungen von Russen: Stadtmenschen, Steppenmenschen, Waldmenschen. Für die ersten beiden hatte er wenig übrig. Seine eigene Welt begann da, wo sich dem gräsernen Meer der Steppe die ersten Nadelwälder entgegenstemmen. In den hölzernen Labyrinthen der Taiga verbrachte Wolodja jeden freien Tag. „Die Leute erzählen mir immer, was sie alles im Urlaub erleben, in der Türkei, auf der Krim, in Europa. Wer braucht das? Gib mir ein Zelt und eine Flinte, und ich bin glücklich.“
Himmlische Zeiten
Er presste ein unsichtbares Gewehr an die Schulter und zielte aus dem Zugfenster. Lautlose Schüsse erschütterten seinen Körper, unsichtbare Tierkadaver blieben auf der Strecke.
Der Zug war nicht Wolodjas bevorzugtes Verkehrsmittel – im Herzen war er Motorist. Früher, zu Sowjetzeiten, war er Autorennen gefahren. Er zeigte mir Fotos seiner Maschinen: umgebaute Ladas, aufgemotzte Schigulis, zusammengeschweißt aus Teilen, die Wolodja und seine Rennsportgenossen der sozialistischen Produktion entwendeten. Als Mechaniker hatten sie damals in einem Nowosibirsker Landmaschinenkombinat gearbeitet. „Man zahlte uns das Minimalgehalt, wir machten minimale Arbeit. Die Traktoren interessierten uns einen Dreck, wir brauchten nur die Werkzeuge, die Ersatzteile. Es war alles da, wir mussten nur zugreifen. Niemand überprüfte uns, niemand stellte Fragen. Himmlische Zeiten waren das!“
Die Zeiten aber, in denen Wolodja noch selbst Rennwagen gelenkt hatte, waren lange vorbei. „Ich bin zu alt“, sagte er bedauernd. „Ich verstehe den Sport nicht mehr. Alles ist schwieriger geworden, ohne Geld ist nichts mehr zu machen. Wenn ich heute ins Kombinat gehe und sage: Kinder, fräst mir eine Stoßstange, dann heißt es: Wolodja, bring uns Material zum Fräsen.“ Er lachte ein kurzes, trockenes Lachen. „Marktwirtschaft.“ Inzwischen arbeitete er als Trainer. Er zeigte mir Fotos der Fahrer, die er in Nowosibirsk ausbildete: Jungs mit kurzgeschorenen Köpfen, die meisten kaum volljährig. Mit väterlicher Zärtlichkeit kommentierte Wolodja die Fotos. „Maxim, guter Junge, aus dem wird mal was.“ – „Hier, Sascha, der hat das Fahren im Blut.“
Was hat ein Sibirier am Schwarzen Meer zu suchen?
Als Trainer arbeitete Wolodja ehrenamtlich, sein Geld verdiente er als Spediteur. Mit seinem LKW transportierte er Rennwagen von einem Wettbewerb zum nächsten. Gerade kam er aus Moskau, seinen Transporter hatte er bis zum nächsten Rennen dort gelassen, in ein paar Wochen würde er ihn wieder abholen. Wenn gerade kein Wettbewerb stattfand, spedierte er Baumaterial, Möbel, Autos, was immer gerade anfiel. Demnächst stand ein Umzug an, Wolodja würde den Hausrat eines Freundes quer durch Russland transportieren. „Seine Frau will unbedingt im Süden leben. Jetzt ziehen sie ans Schwarze Meer.“ Wolodja schüttelte verständnislos den Kopf. „Was hat ein Sibirier am Schwarzen Meer zu suchen? Mein Freund will eigentlich gar nicht, aber die Frau liegt ihm ständig in den Ohren: das Klima, das Klima. Ich verstehe nicht, was mit unserem Klima nicht stimmt. Unsere Sommer sind echte Sommer, unsere Winter echte Winter. Am Schwarzen Meer gibt es ja nicht mal Schnee. Die Frau sagt: Ich brauche keinen Schnee, ich konnte den Schnee nie leiden. Sie wird schon noch merken, was das bedeutet, ein Leben ohne Schnee. Das ist nichts für Sibirier.“
Eine Prozession gezückter Zahnbürsten
Er fragte mich nach dem Ziel meiner Reise. Als ich von Agafja Lykowa erzählte, nickte Wolodja, er kannte die Geschichte.„Die Taiga zieht die Menschen an“, sagte er. „Mein Vetter arbeitet bei der Miliz. Letzten Sommer wurde er in die Wildnis geschickt, ein Jäger hatte mitten im Wald eine Leiche gefunden. Er brauchte eine Woche, um sich zu der Stelle durchzuschlagen. Am Ende fand er eine kleine Holzhütte. Drinnen lag ein alter Mann, zerfressen von Insekten, der Bart ging ihm bis zur Brust. Die Hütte war fast leer, man fand nur Tierfallen und getrocknetes Fleisch. Keiner kannte den Kerl. Niemand weiß, wie lange er dort alleine gelebt hat.“ Wolodja ließ die Geschichte wirken, dann lachte er sein trockenes Lachen. „Sibirien!“
Während wir redeten, geriet der Waggon in Bewegung. Blau-weiße Laken glitten von schlafzerknautschten Körpern, Wäscheberge verwandelten sich in Menschen. Grußworte wurden gemurmelt, unbekannte Bettnachbarn verstohlen gemustert, vor der Toilette formierte sich eine Prozession gezückter Zahnbürsten. Kollektiv erwachte unsere transsibirische Schicksalsgemeinschaft und rüstete sich für einen Tag ausdauernden Nichtstuns.
Die Landschaft bleibt die gleiche
Gegen Mittag kannte ich in groben Zügen die Reiseziele und Lebensgeschichten aller meiner unmittelbaren Nachbarn. Mascha (Moskau-Irkutsk) hatte einen Mann am Baikalsee und einen in der Hauptstadt; der Sibirier trank, war aber der bessere Liebhaber, der Moskauer hatte Geld, aber keine Seele. Sergej (Jaroslawl-Jekaterinburg) verkaufte Edelsteine aus den Bergwerken des Urals und ließ seinen Vertreterkoffer keine Sekunde aus den Augen. Tamara (Moskau-Tscheljabinsk) war Polizistin; im Berufsleben löste sie Kriminalfälle, im Zug Kreuzworträtsel. Sonja (Kiew-Tscheljabinsk) studierte Deutsch und begriff den Unterschied zwischen „das gleiche“ und „das selbe“ nicht. „Die Birken hinter dem Fenster“, erklärte ich, „sind die gleichen wie gestern, aber nicht dieselben.“ Sonja nickte erleuchtet. „Ist Wort für Bäume, ja?“ [...]
Die Landschaft blieb am nächsten Tag die gleiche, nur gab es jetzt mehr davon. Immer seltener unterbrachen Städte oder auch nur Dörfer die Monotonie der sumpfigen Wiesen. Wenn Häuser auftauchten, klammerten sie sich dichtgedrängt an den Bahndamm, als hätten sie Angst vor der Leere in ihrem Rücken. Mitunter konnte ich kaum glauben, dass wir den bevölkertsten Teil Sibiriens durchquerten, dass die echte Leere erst ein Stück nördlich der Trasse beginnt, wo das Klima keinen Ackerbau mehr zulässt, wo nur noch Nadelwälder wachsen, und irgendwann selbst die nicht mehr.
Aljonka oder Roter Oktober?
An jeder Haltestelle umringten alte Frauen die Waggons, sie verkauften Teigtaschen, Salzkartoffeln, Bier, getrockneten Fisch. Ich hatte keinen Proviant mitgenommen und verließ mich auf ihre regelmäßigen Lieferungen. Als die Haltestellen seltener wurden, verschätzte ich mich mit den Mahlzeiten und musste einen halben Tag mit einer Tafel Schokolade überbrücken, Marke Aljonka. Auf der altmodischen Verpackung war ein ernstes Mädchengesicht mit aufgerissenen Augen abgebildet. In Moskau hatte ich mich immer gefragt, warum die kleine Aljonka auf dem Bild so verschreckt aussieht. Bis Wanja es mir eines Tages erklärte: „Sie hat Angst vor Stalin.“ Seitdem hatte ich eine Schwäche für die Marke.
„Du isst russische Schokolade“, sagte Wolodja. Es war eine Feststellung, keine Frage.
„Du nicht?“, fragte ich.
„Doch. Nichts anderes. Eure deutsche Schokolade mag ich nicht. Ich weiß noch, damals, in der Perestroika, als in Russland all diese Sachen aus dem Westen auftauchten, da haben wir alle nur noch Snickersy und Marsy und Raidery gegessen.“ Er sprach die ausländischen Namen voller Abneigung aus. „Es hat Jahre gedauert, bis wir gemerkt haben, dass dieses Zeug überhaupt nicht nach Schokolade schmeckt. Ein Glück, dass man inzwischen wieder Aljonka kaufen kann. Und Roter Oktober! Hast du Roter Oktober probiert?“
Ich nickte. „Und?“
„Schmeckt.“
„Was magst du lieber, deutsche oder russische Schokolade?“
„Ich mag beides.“
Wolodja sah mich prüfend an, er schien mir nicht zu glauben. „Wenn ich dir jetzt ein Stück deutsche und ein Stück russische Schokolade anbieten würde, welches würdest du nehmen?“
Ich lachte. „Beide.“
„Aber welches würdest du zuerst essen?“
Während ich noch nachdachte, mischte sich ein älterer Mann vom Nebentisch ein, der unser Gespräch verfolgt hatte. „Sie müssen anders fragen“, sagte er zu Wolodja. „Sie wissen doch gar nicht, ob er zuerst das Stück essen würde, auf das er mehr Lust hat. Vielleicht hebt er sich das lieber für zuletzt auf.“ Wolodja nahm den Einwand nachdenklich zur Kenntnis. „Also gut“, sagte er. „Er darf nur eins essen.“
Beide Männer sahen mich fragend an. Und nicht nur sie. Die Polizistin von gegenüber schielte über den Rand ihres Kreuzworträtsels. Der Edelsteinvertreter sah mich mit unverhohlener Neugier an. An meiner Wahl zwischen zwei fiktiven Stücken Schokolade hing plötzlich das Schicksal zweier Nationen. „Ich weiß es nicht“, sagte ich ehrlich. „Mal so, mal so.“ Meine Zuschauer nickten enttäuscht.