Stalin unter Stuckdecken
Hier ist nichts dem Zufall überlassen. Jeder Bogen ist exakt abgezirkelt, die Form jeder Lampe, jedes Türknaufs bis ins Kleinste geplant. Und doch wirkt das Haus wie hingetupft, fließend und federleicht – ein Werk von überbordender Lebensfreude und Fantasie. Um seine verspielte Fassade zieht sich ein Fries aus glasiertem Ton: violette Orchideen auf cremeweißem Grund. Die Fenster, ein jedes anders geformt, imitieren die Äste der Bäume vor dem Haus. Wie muss eine solche Villa erst von innen aussehen?
Dem Moskauer Bankier Stepan Rjabuschinski hatte Ende des 19. Jahrhunderts der Sinn nach einem extravaganten Wohnhaus gestanden. Durch die Industrialisierung war er zu Reichtum gelangt – und wusste im erstarrten Zarenreich nicht, wohin mit seinem Geld. Politisch betätigen durfte er sich nicht, also widmete er sich der Kunst. Während Pawel Tretjakow seine weltberühmte Galerie erweiterte, beauftragte Rjabuschinski den bis dahin wenig bekannten Architekten Fjodor Schechtel mit dem Bau einer Villa. Die Kosten ließ er nach oben offen, keine Idee konnte individuell, ja exzentrisch genug sein.
Und Schechtel schuf ein Haus, um das Zeitgenossen seinen Besitzer beneideten. Dabei galt der Künstler als zweifelhaftes Genie: Wegen schlechten Betragens war er als 19-Jähriger von der Akademie geflogen und hatte sich sein Geld mit dem Malen von Ikonen und Zeitungsillustrationen verdient. In die Villa Rjabuschinski nahm Schechtel den Jugendstil auf, der gerade als neue Mode von Europa nach Russland kam – und er führte ihn dort zu einer Blüte, die bis heute weltweit ihresgleichen sucht. Der russische Jugendstil ist ausgelassener, der Schwung seiner Linien kühner und die Farbe des Dekors leuchtender als bei den zahmen europäischen Varianten.
Die Räume der Villa Rjabuschinski muss man mit den Augen von Nadja Peneschko sehen, um ihre ganze Schönheit zu begreifen. Die kleine Dame mit dem aschgrauen Dutt kennt das Haus seit über fünfzig Jahren, sie leitet dessen wissenschaftliche Abteilung. Sie lenkt den Blick auf ein großes Tiffany-Bild, das die Diele vom Rest des Hauses trennt: eine Traumlandschaft, deren Stimmung wechselt, je nachdem ob Tageslicht den Raum erhellt oder die elektrische Lampe wie ein blasser Mond hinter dem blauen Glas hervorscheint. Sie zeigt auf die Linien vielfarbigen Holzes im Parkett, die wie Wellen von einem Raum in den anderen fließen. Auf die Türgriffe aus Messing in der Form seltener Muscheln. Auf den weißen Stuck an den Decken: verspielte Blüten im Wohnzimmer, ein kühles Dach aus Kastanienblättern im Kabinett.
Und dann die Treppe: Jedes Mal wieder fehlen Nadja Peneschko die Worte. Wie das Geländer herabfließt über drei Etagen – eine strudelnde Woge graugrünen Steins, marmoriert wie die Spuren von Wellen im Sand. Am Fuße der Treppe bricht sich die Masse, stiebt empor und erstarrt in der Gischt zu einem Meerestier. Seine Tentakeln schweben im Raum und erhellen ihn, von innen beleuchtet. „Funktioniert seit über hundert Jahren, die Elektrik“, unterbricht die Kunsthistorikerin ihr schweigendes Staunen und kehrt zu den Fakten zurück.
Genauso abrupt endete 1931 die verträumte Phase des Hauses. Bankier Rjabuschinski war ins Ausland geflohen und Josef Stalin überließ die Villa dem aus der Emigration zurückgekehrten Maxim Gorki. Ausgerechnet ihm, dem Schriftsteller der kleinen Leute, der alles Bürgerliche zutiefst verabscheute. Gorki ließ den Kamin aus Carrara-Marmor abreißen und die geschwungenen Ziergitter an den Fenstern verhängen. Die Wände stellte er mit schweren Bücherregalen zu. Wo Schechtel allenfalls ein graziles Tischchen erlaubt hätte, um die Weite des Raums nicht zu zerstören, platzierte er wuchtige Ledersessel. Dort hinein ließ sich wenig später Stalin fallen, der die Schriftsteller der jungen Sowjetunion in der Villa versammelte. Sie seien die „Ingenieure der Seele“, rief er ihnen zu und forderte schlichte Gedanken in klarer Sprache zum Ruhm des kommunistischen Aufbaus. Der Gegensatz zur geschwungenen Eleganz ringsum konnte größer nicht sein.
Die Ledersessel stehen heute noch in der Villa Rjabuschinski, die seit 1965 Gorki-Museum heißt. Bis an die Decke reichen die Regale mit der 12.000-bändigen Bibliothek des Schriftstellers. Doch die Anmut des Hauses und den Ruhm seines Erbauers können sie nicht überdecken. „Schechtel hat sich nie für Politik interessiert“, sagt Nadja Peneschko, „nur für die Schönheit. Dem Schönen, dem Guten wollte er eine Form geben. Wenn man lange genug in diesem Haus bleibt, geht dieses Gute auf einen über.“
Bei ihr selbst ist das zweifelsohne geschehen. Unermüdlich führt sie Besucher durch das Haus. Die scharfen Blicke der Aufsichtsdamen, die weitschweifende Erklärungen kurz vor Feierabend nicht ausstehen können, beachtet sie kaum. Auch das Drängeln des Wächters ignoriert sie, bis der seine Chefin, weit nach Schließzeit, mitten im Satz zur Tür hinaus schiebt. Erst auf der Straße hält sie inne und zieht nach dreieinhalbstündiger Führung die Stirn in Falten: „Herrjeh, jetzt mussten wir hier im Galopp durch. Dabei gibt es noch so viel zu sehen.“