Rumänien

Der verschwiegene Holocaust

„Was sind Roma für Euch?“, fragt Daniel Serafimescu zu Beginn der Geschichtsstunde. Er schaut in eine Runde von modisch gekleideten Teenagern. Roma seien dreckig, vulgär und würden viel Goldschmuck tragen, kommt als Antwort. Serafimescu überlegt kurz, reagiert dann mit ruhiger Stimme: „Das sind gleich drei negative Stereotype, die ihr von Menschen habt, die ihr gar nicht kennt.“ Die Teenager, die geantwortet haben, blicken beschämt zu Boden.

Über 60 Jahre wurde der Holocaust totgeschwiegen

„Verallgemeinerung kann zu Diskriminierung führen“, sagt Serafimescu und fügt hinzu: „Genau das ist den Juden und Roma in Rumänien im Zweiten Weltkrieg schon einmal passiert.“ Damit ist der 37-Jährige mitten im Stoff. Serafimescu war jahrelang Geschichtslehrer am Gymnasium der südrumänischen Stadt Topoloveni. Inzwischen ist er stellvertretender Schulleiter. Das Wahlfach „Geschichte des Holocaust“ lehrt er neben seinen anderen Verpflichtungen immer noch – weil es ihm so wichtig ist.

Dass es einen Genozid in Rumänien gab, ist erst seit wenigen Jahren überhaupt ein Thema. Über 60 Jahre lang wurde der Holocaust im Land totgeschwiegen. Er passte nicht zur Ideologie der Ceausescu-Diktatur, die die rumänische Geschichte glorifizierte und mit nationalistischen Mythen wie kein zweites Mal in Osteuropa verfälschte.

Die Beweise waren schockierend

Nach der Wende hätte sich das ändern können. Doch statt einer kritischen Aufarbeitung setzte ein regelrechter Kult um den pro-faschistischen Militärdiktator Ion Antonescu ein, dem rumänischen Verbündeten von Hitler im Zweiten Weltkrieg, der im Oktober 1941 den Befehl zur Deportation der rumänischen Juden gegeben hatte. Das rumänische Nach-Wende-Parlament stilisierte Antonescu zum Nationalhelden. Der Diktator wurde als Kämpfer gegen den Kommunismus gefeiert, gegen ein System, das man gerade erst gestürzt hatte.

Jahre später musste die Bukarester Regierung jedoch im Zuge der Bewerbung um die NATO-Mitgliedschaft die Geschichte zurechtrücken. Schockierend war die Beweissammlung, die 2004 eine international besetzte Historikerkommission unter Vorsitz von Nobelpreisträger Elie Wiesel vorlegte: Mindestens 280.000 Juden und 11.000 Roma wurden im Zweiten Weltkrieg in Transnistrien getötet – einem Gebiet, das heute nicht mehr zu Rumänien gehört.

Nur an sechs Prozent der Gymnasien ein Thema

Die rumänische Militärdiktatur hatte damals darauf bestanden, die „Lösung der Judenfrage auf eigene Weise zu erledigen“, ohne den Alliierten Deutschland. Die Deportierten wurden in den rumänischen Ghettos und Arbeitslagern „bis aufs Maximum“ ausgebeutet, so der Bericht. Ein Thema, das als Wahlfach an die Schulen muss, hieß es von der Historikerkommission. Doch nur an sechs Prozent aller rumänischen Gymnasien wird es laut Bildungsministerium inzwischen unterrichtet.

Daniel Serafimescu projiziert Fotos an die Wand des gelbgetünchten Klassenzimmers, die das Grauen des Holocaust zeigen. Er weiß, die Teenager auf Visuelles reagieren. Plötzlich unterbricht er: „Das ist jetzt jahrzehntelang her“. Im Videobeamer tauscht er die Bilder aus. Ärmliche Roma-Lager in Frankreich sind zu sehen. Ein ungewöhnlicher Schwenk, mit dem Serafimescu eine Verbindung zur Gegenwart herstellt.

In einem Screenshot zeigt er Internet-Kommentare, in denen steht, dass man die Roma zum Teufel jagen solle. Die Bemerkungen strotzen vor Hass, „und da habe ich die Schlimmsten noch weggelassen“, sagt Serafimescu. Wieder sollen die Schüler sagen, was sie denken. Auch fragt sie ihr Klassenlehrer, wie sie die Roma integrieren würden. Eine Frage, auf die selbst Politiker keine Antwort haben. „Ich würde sie alle in ein eigenes Land bringen“, ruft eine Schülerin. „Was?“, reagieren die anderen empört, „von was sollen sie denn dort leben?“ Serafimescus Geschichtsstunde hat sich längst in Gesellschaftskunde verwandelt.

Viele Roma verleugnen bis heute ihre Herkunft

Dass Themen wie der Holocaust und Integrationsprobleme an Schulen oder Universitäten gelehrt werden, „ist heute immer noch personenabhängig“, meint Petre Florin Manole. Der Historiker war jahrelang am Bukarester Elie-Wiesel-Institut zur Erforschung des Holocaust für Lehrer-Weiterbildungen zuständig. „Die große Mehrheit ist an diesem Stoff nicht interessiert“, sagt Manole über die mehr als 5.000 Geschichts- und Sozialkundepädagogen im Land. „Die meisten Lehrer haben weiter einen nationalistischen Blick auf die Geschichte. Da werden negative Seiten wie der Holocaust natürlich ausgelassen.“

Gut 6.000 Juden leben heute noch in Rumänien, vor dem Zweiten Weltkrieg waren es rund 800.000. Viele sind im Ceausescu-Regime nach Israel ausgewandert, der Diktator ließ sich die Ausreise mit Valuta bezahlen. Laut jüngster Volkszählung leben in Rumänien rund 620.000 Roma, ihre wirkliche Zahl aber wird auf rund zwei Millionen geschätzt. Viele Roma verleugnen ihre Herkunft, um nicht diskriminiert zu werden. Sie sind die alten und neuen Sündenböcke der Nation.

Im Internet werden sie an den Pranger gestellt, weil sie Schuld an der Armseligkeit im Land hätten und sich doch gar nicht integrieren lassen wollten. Die Kommentare übertreffen sich an Chauvinismus und Rassismus. Da ist zu lesen, „dass Roma nicht mit Rumänen verwechselt werden sollten“, „dass die Öfen wieder angeheizt werden müssten“ oder dass der Militärdiktator Ion Antonescu „mit ein bisschen mehr Zeit die Juden- und Zigeunerfrage endgültig gelöst hätte“.

Der Lehrer wurde von den Kollegen angefeindet

Trotz Strafanzeigen werden diese Bemerkungen in der Regel nicht verfolgt, sagt Historiker Petre Florin Manole. Vor Jahren bezeichnete selbst Staatspräsident Traian Basescu eine hartnäckig nachfragende Journalistin als „stinkende Zigeunerin“. Ein Fall, der Aufsehen erregte, viele aber auch in ihrer Abscheu gegen Roma bestätigt haben wird. Für Manole sind die Politiker das Spiegelbild der Gesellschaft: „Nach außen geben sie sich politisch korrekt, sie denken aber ganz anders. Da brauchen wir noch jahrelange Aufklärungsarbeit.“

In Topoloveni wird sie bereits umgesetzt. Daniel Serafimescu lehrt das Holocaust-Thema, „weil es in Rumänien immer noch stark verleugnet wird.“ Die Kleinstadt Topoloveni zählt rund 10.000 Einwohner. Wenn Serafimescu durch den Ort läuft, rufen die Schüler schon von weitem: „Guten Tag, Herr Lehrer!“ Die staubige Hauptstraße, an der sich frisch renovierte Neubauten aufreihen, führt in die nahegelegene Kreisstadt Pitesti, dem Geburtsort des pro-faschistischen Militärdiktators Ion Antonescu. Er rekrutierte aus dieser Gegend zahlreiche militante Anhänger für seine juden- und romafeindliche Politik.

Auch wegen dieser Vergangenheit hat sich Serafimescu des Holocaust-Themas angenommen. Erst in einer Allgemeinschule, inzwischen am Gymnasium. Einfach war das jedoch nicht. Denn Serafimescu will in seiner Heimatstadt anders sein als die ältere Lehrergeneration, die ihn ausgebildet hat. Der junge Mann wirkt unkonventionell. Seine Schüler hören ihm wissbegierig zu, wenn er von Ehrlichkeit, Toleranz, gesellschaftlichem Engagement erzählt. Dann wird diskutiert. „Endlich fragt uns jemand auch mal nach unserer Meinung. Das passiert sonst wirklich selten“, sagt eine Schülerin über ihren Klassenlehrer.

Es gab ein Disziplinarverfahren

Doch vor Jahren gab es einen Skandal in Topoloveni – ausgerechnet um Serafimescus Holocaust-Wahlfach, das er damals an der Allgemeinschule Nummer 1 in Klasse sechs unterrichtete. „Was hat denn der Holocaust mit unserer Kleinstadt zu tun, in der weder Juden noch Roma leben?“, fragte sich ein Teil des Lehrerkollegiums. Es folgte eine monatelange Debatte, die teils in den Medien ausgetragen wurde.

Selbst die Eltern revoltierten. Ihre Kinder sollten „doch lieber etwas fürs Leben lernen“ statt Bilder von Leichenbergen zu sehen. „Man warf mir vor, dass ausgerechnet ich als Historiker das rumänische Volk schuldig spreche“, sagt Serafimescu rückblickend, „ich sei ein Agent Israels, der Lügen verbreite.“ Gegen den Lehrer wurde ein Disziplinarverfahren an der Schule eingeleitet. Spätestens da hätte wohl so mancher Pädagoge in Rumänien aufgegeben – der Karriere wegen, des Gehorsams wegen. Anders Serafimescu. Er hatte Zusatzkurse zum Holocaust-Thema besucht, sich akribisch in den neuen Unterrichtsstoff eingearbeitet. Der Historiker brachte den Streit um sein Wahlfach beim rumänischen Bildungsministerium zur Sprache. Dort gab man grünes Licht, weil der Holocaust schließlich geschichtliche Wahrheit ist. In die Kleinstadt zog wieder Ruhe ein, die Stimmung im Lehrerkollegium blieb jedoch angespannt. Serafimescu wechselte ans Gymnasium, das Wahlfach nahm er mit.

Nach der Unterrichtsstunde wirkt Serafimescu ein wenig müde. Ihn holt die Schulrealität ein. Nach 14 Dienstjahren verdient er als Lehrer stellvertretender Schuldirektor rund 300 Euro monatlich. Rumänien leidet seit Jahren unter einer schweren Wirtschaftskrise, an den Gehältern ist das zuallererst zu spüren. Serafimescu denkt ans Auswandern. Wenn er geht, werden seine Schüler wohl rebellieren. Schließlich hat er ihnen beigebracht, sich einzumischen.


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