Soziale Arztpraxen als letzte Hoffnung
Haris Fasolias sitzt mit seiner Frau und seinem Baby im Wartezimmer einer sozialen Arztpraxis in Athener Stadtteil Elliniko. Er und seine Frau sind seit über einem Jahr arbeitslos, vor einigen Monaten mussten sie auch aus der Krankenversicherung ausscheiden. Ihr Baby können sie nun nur noch in den völlig überfüllten öffentlichen Krankenhäusern untersuchen lassen – oder in einer der sozialen Arztpraxen, die seit der Krise entstanden sind. „Gottseidank gibt es diese Praxis, wohin wir unser Baby bringen können“, sagt der junge Vater.
Immer mehr Kinder sind unterernährt
Die Kinderärztin wiegt das Baby, sie ist zufrieden. Seit dem letzten Termin hat es zugenommen. Das ist nicht selbstverständlich in Griechenland: Immer öfter sieht Toula Zervou in ihrer Praxis auch unterernährte Kinder. Die Ärztin sorgt dafür, dass die Kinder Standarduntersuchungen bekommen und geimpft werden. Zusätzlich verteilt sie Windeln und Babynahrung.
Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, fliegt aus der Krankenversicherung
Die soziale Arztpraxis im Athener Stadtteil Elliniko gibt es seit vergangenem Dezember. Rund 200 Ärzte, Apotheker und freiwillige Helfer kümmern sich abwechselnd um die vielen Patienten, die sich eine medizinische Behandlung nicht mehr leisten können. Es werden immer mehr: Seit dem Ausbruch der Krise im Jahr 2009 ist die Arbeitslosigkeit um mehr als 15 Prozent gestiegen. Offiziell liegt sie bei mehr als 25 Prozent, die Gewerkschaften vermuten, dass sie längst die 30-Prozent-Hürde überschritten hat.
Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, bekommt kein Arbeitslosengeld mehr und wird aus der gesetzlichen Krankenkasse ausgeschlossen. Schätzungen zufolge ist etwa jeder dritte Grieche mittlerweile nicht mehr versichert.
Auch Medikamente gibt es umsonst
„Diese Praxis rettet Leben“, sagt ein älterer Herr im Wartezimmer. Dort teilt die Apothekerin Mairi, die ihren Nachnamen nicht nennen will, kostenlose Medikamente aus. Sogar Krebskranke versorgt sie. Die Arzneien haben Privatleute und Hilfsorganisationen gespendet. Die Gemeinde kann die Betriebskosten gerade noch aus ihrer mageren Kasse decken. Fragt sich nur, wie lange: Die Nachfrage nach kostenloser Medizin steigt.
„Es kommen auch Patienten zu uns, die zwar versichert sind, deren Kasse aber nicht mehr zahlt“, berichtet die Apothekerin Mairi. 90 Prozent der Bevölkerung sind beim staatlichen Gesundheitsversorger EOPYY versichert, der wie viele staatliche Institutionen in Schulden versinkt und nahezu zahlungsunfähig ist.
Es fehlen Verbandsmaterial und Spritzen
In vielen staatlichen Krankenhäusern fehlen mittlerweile Verbandsmaterial und Spritzen, Operationen müssen verschoben werden. Wegen des Spardrucks kaufen Krankenhäuser inzwischen medizinisches Material in schlechterer Qualität ein. Um weitere Kredite von der EU und vom Internationalen Währungsfonds IWF zu erhalten, plant die griechische Regierung allein bei der medizinischen Versorgung in den nächsten zwei Jahren Kürzungen von mehr als einer Milliarde Euro.
Schon im Juni hatte die Athener Ärztekammer an die UNO und Europäer appelliert, die Lage in Griechenland ernst zu nehmen. Die griechischen Apotheker-Verbände wandten sich damals in einem Brief an den Chef der EU-Task Force für Griechenland, den deutschen Finanzexperten Horst Reichenbach und baten dringend um Hilfe. Das Land brauche mindestens 1,5 Milliarden Euro für Medikamente und medizinisches Material, hieß es in dem Brief.
Die Regierung leugnet das Problem
Die Regierung scheint die Realität nicht wahrzunehmen. In einem Interview mit den amerikanischen TV-Sender CNN behauptete Gesundheitsminister Andreas Lykourentzos vor ein paar Wochen, es gebe keinen griechischen Bürger, der keinen Zugang zu Medikamenten habe. Der Staat könne sich nicht um alle kümmern, die aus der staatlichen Krankenversicherung ausgeschlossen wurden, hieß es wenig späteraus dem Ministerium. „Der Gesundheitsminister setzt anscheinend auf Leute wie uns. Er glaubt, dass soziale Praxen wie unsere den Staat ersetzen können“, sagt die Apothekerin Mairi empört. „Wenn diese Politik weitergeführt wird, werden Tausende ihr Leben verlieren“, warnt der Arzt Giorgos Vichas, einer der Gründer der sozialen Ärztepraxis in Elliniko.
Auch die Verbände setzen zunehmend auf die ehrenamtlichen Ärzte. „Diese Initiativen sind sehr wichtig“, sagt Zoi Grammatoglou, Präsidentin des Vereins für Krebskranke in Athen. „Allein die Tatsache, dass Patienten sich wieder auf den Weg machen und medizinische Hilfe suchen können, bedeutet neue Hoffnung.“
Die Solidarität wächst
Unter den ehrenamtlichen Mitarbeitern der Praxis befindet sich auch die Schriftstellerin Christina Kollia. Mit einem Lächeln beobachtet sie, wie die Kinderärztin Haris uns seiner Frau Babymilch in die Hand drückt. „Die Krise macht deutlich, dass man ohne Solidarität nicht überleben kann“, sagt die 50-Jährige. Vor ein paar Jahren habe noch eine andere Logik geherrscht, die Leute seien isolierter gewesen. Dies ändere sich gerade – und das sei das einzig Positive an der Krise.