Litauen

Atomkraftgegner machen mobil

Es ist eisig heute morgen im Bezirk Karoliniskes, einer maroden Plattenbausiedlung am Stadtrand der litauischen Hauptstadt Vilnius. Neben dem kleinen Wochenmarkt hat Linas Balsys einen grünen Sonnenschirm aufgestellt. Er verteilt Handzettel mit seinem Wahlprogramm und spricht Neugierige an. Die leuchtende Regenjacke hat der grüne Kandidat mit dem kurz rasierten grauen Bart hoch geschlossen, ein Wollschal schützt den 51-Jährigen gegen den Wind.

Moskau hat die Gaspreise drastisch erhöht

Die grüne Partei ist noch zu schwach in Litauen, deshalb kämpft Balsys als unabhängiger Kandidat für eine umweltfreundliche Politik. Er wolle die Leute ermutigen, sich einzumischen, sagt er. „Ich habe den Volksentscheid über das neue Atomkraftwerk ins Leben gerufen, unser Parlament hat ihn durchgesetzt. Mein Vorschlag: Lasst uns eine halbe Milliarde Euro für Energie einsparen. Wir isolieren die alten Plattenbauten und verzichten auf ein neues AKW.“

Soll der Staat tatsächlich 1,7 Milliarden Euro in den Bau eines neuen Kernkraftwerks investieren? Darüber stimmen die Litauer am kommenden Sonntag (14. Oktober) per Referendum zeitgleich mit den Parlamentswahlen ab. Zwar ist das Referendum nicht bindend, doch trotzdem gibt es seit Wochen kaum ein anderes Thema. Denn Litauen ist völlig abhängig von Energieimporten aus Russland, seit vor drei Jahren der veraltete Atommeiler „Ignalina“ abgestellt wurde. Das hatte Brüssel verlangt, weil „Ignalina“ baugleich mit dem sowjetischen Unglücksreaktor von Tschernobyl war. Seitdem muss Litauen Strom und Gas aus Russland beziehen. Die Menschen sind erbost, denn Moskau hat für diesen Winter die Gaspreise drastisch erhöht.

Energie sparen statt Atomkraftwerke bauen

„Ich habe große Angst vor der Kälte und weiß nicht, wie ich die hohen Heizkosten bezahlen soll“, sagt eine Rentnerin, die soeben Kohl und Kartoffeln auf dem Markt erstanden hat. „Trotzdem bin ich gegen den Bau eines neuen Atommeilers. Wir sollten lieber unsere Wohnungen isolieren und Energie einsparen. Außerdem haben wir viel Holz, das können wir als Biomasse in unseren Kraftwerken verbrennen.“ Eine junge Frau, die gerade ihr Kind zur Schule gebracht hat, stimmt zu. „Ein Atomkraftwerk ist teuer, wir müssten uns hoch verschulden. Es gibt doch auch Sonne und Wind.“

Gebäude sanieren, Energie sparen und auf die Erneuerbaren setzen: Genau das sind die Themen, für die Linas Balsys seit Monaten in Litauen Anhänger sucht. Vor einem Jahr rissen sich die Medien um den Grünen, nachdem er seinen Job als Sprecher der Präsidentin hingeschmissen hatte. Er war enttäuscht, als Dalia Grybauskaite ihr Wahlversprechen brach und die Regierung im Bau eines neuen Atommeilers bestärkte.

Ausgerechnet ein japanischer Konzern baut das Kernkraftwerk

Für viele Bürger ist er deshalb zum Hoffnungsträger geworden, immer mehr lehnen wie Linas Balsys die Kernkraft ab. „Früher waren die meisten Litauer für Atomkraft“, sagt er, „aber in den letzten Umfragen waren fast 70 Prozent dagegen. Natürlich spielt dabei auch die Katastrophe von Fukushima eine Rolle.“ Denn ausgerechnet der japanische Konzern Hitachi soll das neue Kraftwerk liefern.

In der Bevölkerung ist in den vergangenen Monaten der Widerstand gegen das von der konservativen Regierung geplante Projekt gewachsen. Das Referendum ist ein Zugeständnis an die Opposition. „Wir sind in Litauen sehr reich an Holzabfällen und Biomasse. Wir sprechen von zwei Millionen Tonnen Rohstoff, die sogar eine sichere Alternative zum teuren Erdgas aus Russland sind. Wir benötigen den neuen Atommeiler einfach nicht“, sagt Balsys.

Unternehmer setzen auf Solarenergie und Biomasse

Davon ist auch Zidrunas Mackevicius überzeugt. Vor drei Jahren hat er mit seiner Firma „Biokaitra“ den ersten Brenner patentiert, der problemlos Stroh und grobe Holzabfälle verbrennen und in Wärme umwandeln kann. Zu Beginn sei das Geschäft nur schleppend angelaufen, gesteht der junge Erfinder, aber mittlerweile habe sein Unternehmen mehr als 300 Kessel und Brenner an Energieproduzenten in Litauen verkauft. Allein das große Wärmekraftwerk in der Hauptstadt Vilnius verbrenne jährlich Biomasse zu 60 Megawatt Energie. „Es wäre ein Leichtes für uns, aus Biomasse auch jene 600 Megawatt zu produzieren, für die wir heute teures Gas aus Russland kaufen. Nur der politische Wille fehlt.“

Bei der Solarenergie sieht es anders aus: Anfang des Jahres hat das Energieministerium den Einspeisetarif erhöht. Seitdem ist die Nachfrage nach Solarzellen sprunghaft gestiegen. Mehr als 1.000 Unternehmen haben einen Antrag auf Produktion von Sonnenenergie gestellt. Grund genug für den 27-jährigen Vytautas Kieras, seine Auslandspläne fallen zu lassen und eine Karriere in Litauen aufzubauen. Vor den Toren von Vilnius soll unter seiner Regie auf 26.000 Quadratmeter eine Fabrik entstehen, die Solarzellen für den gesamten baltischen Markt herstellt. „Wir befinden uns am Scheideweg. Solarenergie wird salonfähig und schafft Arbeitsplätze. Schon bald werden wir auf unzähligen Dächern litauische Solarzellen sehen.“

Vielleicht wird sein Wunsch tatsächlich bald Wirklichkeit, freut sich der Grüne Linas Balsys. Trotz eisiger Kälte wirbt der Kandidat bis in den Abend für die Energiewende in Litauen. Er macht sich nur Sorgen, dass sich zu wenige Litauer am Volksentscheid beteiligen und dieser deshalb ungültig sein wird. Trotzdem ist Linas Balsys zuversichtlich: Wird er tatsächlich gewählt, dann gründet er die erstes Grüne Fraktion im litauischen Parlament.


Weitere Artikel