Ein heißer Herbst beginnt
Es war wie immer so kurz vor einer Großaktion der Opposition in Russland: Tagelang verhandelten Regierungsgegner mit der Stadtverwaltung um die Route, um die Teilnehmerzahl, um Sicherheitsvorkehrungen. Nicht erteilte Genehmigungen hier, Ultimaten dort. Nun hat das Tauziehen vorerst ein Ende: An diesem Samstag, 15. September, wollen Tausende von Unzufriedenen wieder auf die Straße ziehen, quer durchs Land. Allein in Moskau sind 25.000 Demonstranten erlaubt. Russlands heißer Herbst beginnt.
Worte, die Wut auslösen
Sie kommen langsam von ihren Datschen zurück, aus den Ferien. Sie finden Briefe von der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft vor, darin ist die Rede von erhöhten Preisen. Sie sehen sich mit den Forderungen von Schulen und Kindergärten konfrontiert, auch da sind die Ausgaben mehr geworden. Sie holen ihre Rente ab, die Summe blieb dieselbe. Aber sie sehen ihren Präsidenten im Fernsehen. Sie sehen immer den Präsidenten im Fernsehen. Mit Versprechungen, immer mehr Versprechungen. Worte, die Wut auslösen, auch zynisches Lachen.
Sie sehen ihn fliegen, den Präsidenten, diesmal mit per Drachenflieger mit Kranichen in Sibirien. Sie sehen ihn lächeln, über die gelungene Tat mit der aussterbenden Vogelart. Sie lachen selbst, über die lächerliche Aktion eines Staatschefs, der immer mehr den Boden unter den Füßen verliert und für die Unzufriedenen im Land nur Spott übrig hat: Die Mehrheit folge dem Leittier eines Schwarms, die Minderheit bleibe zurück, hören sie ihn sagen. Die Minderheit. Die Regierungsgegner werden diesen Stempel nicht los.
Die Opposition ist uneins
Doch anzubieten gegen die Präsenz des Präsidenten, gegen die Macht des Kremls haben sie tatsächlich kaum etwas. Sie dürfen es auch gar nicht. Während Wladimir Putin sich als dynamischer Jungspund, der er längst nicht mehr ist, in einer regelrechten PR-Abenteuerserie inszeniert, schafft es die Opposition kaum, sich einig zu werden. Wie denn auch, wenn liberale, nationalistische, linksradikale Kräfte in Einem um eine Lösung bemüht sind?
Es war ein Leichtes, sich vor der Parlaments- und auch der Präsidentschaftswahl auf einen Slogan zu einigen: Weg mit Putin! Es ist ein Schweres, jetzt, wo Putin da ist und womöglich die nächsten zwölf Jahre bleibt, die Bürger an konkreten Beispielen vom Versagen des bestehenden Systems zu überzeugen.
Eine Alternative zu Putin sehen die wenigsten
Obwohl es viele Beispiele gibt: Es sind etliche Gesetzesänderungen, das Demonstrationsrecht, das Gesetz, wonach sich Nichtregierungsorganisationen als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen, Reglementierungen für freiwillige Hilfseinsätze, Hausdurchsuchungen von Oppositionellen, absurde Prozesse, erhöhte Ausgaben der Regierung fürs Militär, dafür Streichung der Ausgaben für Bildung und Gesundheit. Solche Themen kommen auch im Fernsehen vor, der Informationsquelle Nummer Eins im Land: entweder, um die Opposition zu diskreditieren – in bester Agitprop-Manier, oder, um die Regierung als Helfer in der Not in hellsten Farben auszumalen.
Das Dilemma bleibt: Viele Russen wenden sich von Putins Politik zwar ab, eine Alternative zu ihm sehen sie allerdings auch nicht. Der Opposition fällt es im Zuge der breitgestreuten Diffamierungskampagnen immer schwerer, außerhalb des städtischen Protestmilieus Rückhalt zu finden. Auch das Urteil gegen die drei jungen Frauen der Punk-Guerilla „Pussy Riot“ vermag nicht zu einen. Vielmehr ist das groteske Verfahren aus Sicht des Kremls gar nützlich, um die Opposition zu schwächen.
Pussy Riot hat die Opposition in die radikale Ecke gedrängt
Denn die Opposition stellt sich schon aus Prinzip auf die Seite der Punkerinnen. Sie ergreift immer Partei für die von der Staatsmacht Verfolgten, mag auch die Mehrheit der Oppositionellen das „Punk-Gebet“ als solches verurteilt haben. Also werden alle, die sich für „Pussy Riot“ einsetzen – nicht für ihre Kunst, sondern vielmehr gegen die Willkür des Staates –, in die radikale Ecke gedrängt. Schon kann sich das Regime als Verteidiger von Wohl und Anstand feiern, und die Mehrheit der fernsehbearbeiteten Bevölkerung heißt die zweijährige Haft in der Strafkolonie gut. Mission erfüllt, das präsidiale Leittier kann weiterfliegen.