„Der Sieg wird unser sein!“: 200 Jahre Schlacht von Borodino
Der Junge hat sich vorbereitet. Er atmet tief durch und legt einen Auftritt hin, der auch russische Literaturwettbewerbsjuroren schon tief beeindruckt haben soll. „Alle drückten ihn zur Seite, doch Petja spürte einen solchen Drang, eine solche tiefe Liebe zu seinem Vaterland, dass ihn gar nichts davor abschreckte, zum Zaren zu gelangen. Er wollte in den Krieg.“ Das Publikum klatscht, der blonde 14-Jährige erholt sich von seinem langen Hurra-Schrei am Ende der Vorstellung.
Er hat viel von Kampf gesprochen, von Vaterland und Feinden und dem Sieg. Er hat ein Kapitel aus Lew Tolstois „Krieg und Frieden“ auswendig gelernt, diesem literarischen Militärpanorama über Napoleons Russland-Feldzug, und er steht jetzt hier, in der Moskauer Schule Nummer 711, vor ihm Dutzende von Siebenjährigen mit ihren Eltern und Lehrern. Es ist Einschulung in Russland, und es ist die verordnete Glorifizierung eines hoch geschätzten Traumas im Land. Eines, das die russische Regierung in diesem Jahr geradezu ausschlachtet, um den Gründungsmythos einer russischen Nation wieder zu stärken. Auch wenn Siebenjährige, die da brav in der Aula ihrer Schule sitzen, gar nicht verstehen, was eigentlich vor 200 Jahren geschah.
Fürchterlichstes Gemetzel der Geschichte
Im Juni 1812 überquerte Napoleon mit seinen Truppen die Memel in östlicher Richtung. 600.000 Mann hatte der französische Kaiser in seiner Grande Armée aufgebaut, Angehörige fast aller Nationen Europas. Es war die gewaltigste Streitmacht jener Zeit. Ein halbes Jahr später flohen 30.000 von ihnen, die demoralisierten Reste einst stolzer Streitmacht, in einem Elendstreck gen Westen zurück. Napoleon hatte in Russland eine vernichtende Niederlage erlitten, es war der Anfang vom Ende seiner Herrschaft in Europa. Die Schlacht von Borodino, einem Dorf etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt, gilt als das fürchterlichste Gemetzel der Geschichte und als Wendepunkt des Napoleonischen Desasters vor Moskau.
An diesem Freitag, 7. September, jährt sich die Katastrophe zum 200. Mal. Für Russlands Mächtige wieder ein Grund, an den „Mut, die Kraft, die herzliche Liebe zum Vaterland“ zu appellieren. So nannte es Präsident Wladimir Putin, als er das Schlachtfeld von damals vor einigen Tagen besuchte. Hunderttausenden hatte Napoleons Krieg das Leben gekostet, doch er verschaffte den damaligen Regierenden des zaristischen Vielvölkerreiches ein wertvolles Gut: das Gefühl einer Einheit. Daran erinnert Putin auch heute gern. „Nur wenn man zusammensteht, erzielt man die besten Ergebnisse bei der Entwicklung des eigenen Vaterlandes.“ Bereits im Präsidenten-Wahlkampf am Anfang des Jahres hatte Putin gekonnt die Verse von Michail Lermontow aus dem Gedicht über den Kampf in Borodino zitiert und gerufen: „Die Schlacht um Russland geht weiter, der Sieg wird unser sein!“
Die Schlacht wird jedes Jahr nachgestellt
Das Gedenkjahr feiern die Russen mit viel Pomp und viel Patriotismus. Umgerechnet etwa 70 Millionen Euro hat der Staat für das Fest bereitgestellt. Er ließ den Obelisken in Borodino renovieren und den Triumphbogen an der Moskauer Ausfallstraße zur Präsidenten-Datscha. Quer durchs Land gibt es Bälle „zu Ehren der Offiziere von 1812“, auf dem einstigen Schlachtfeld selbst stellten Franzosen und Russen in historischen Kostümen mit Kanonenschüssen und Kavallerie die Kämpfe nach. Selbst im Kindergarten erzählen die Erzieherinnen den Kleinen vom Krieg gegen die Franzosen. In Museen gibt es Kinderpartys unter dem Motto „Der kleine standhafte Zinnsoldat“. Und die erste Hausaufgabe der Siebenjährigen aus der Moskauer Schule Nummer 711 lautet: bitte die Namen der russischen Generäle im Kampf gegen Napoleon auswendig lernen. Da scheitert so mancher schon an „Barclay de Tolly“.