„In Kasachstan bin ich ein Verbrecher“
Druck erzeugt Gegendruck, nicht nur in der Physik. Dafür ist der kasachische Theaterregisseur Bulat Atabajew, Preisträger der diesjährigen Goethe-Medaille für sein Lebenswerk, ein gutes Beispiel. Durch zivilen Ungehorsam, ausgelöst durch die unverhältnismäßig harsche Reaktion des kasachischen Regimes auf seine kritischen Meinungsäußerungen, hat er in den vergangenen Monaten die autoritär regierende Führungsriege des Landes bloß gestellt. Dadurch ist es dem unbequemen Künstler gelungen, international weitaus mehr Aufmerksamkeit auf die sozialen Missstände im ölreichen Kasachstan zu lenken, als es die heimische politische Opposition bisher vermocht hat.
Die Kundgebungen in Europa hätten ihn gerettet, sagt Atabajew
Atabajew ist Mitbegründer und langjähriger Leiter des Deutschen Theaters in Almaty. Er ist für seine unkonventionellen Bühneninszenierungen bekannt, bei denen er sich an Bertolt Brecht und dem sozialen Theater orientiert. Mitte Juni war der 60-Jährige in Almaty, der größten Stadt Kasachstans, wegen „Anstiftung zu sozialen Unruhen“ verhaftet worden. Es drohten ihm bis zu zwölf Jahre Gefängnis. Dies sei ein absurder Vorwurf, sagten kasachische Regimekritiker, die ihn gut kennen.
In Deutschland brach ein Sturm der Entrüstung los. Der Filmemacher Volker Schlöndorff und Roberto Ciulli, Intendant des Theaters an der Ruhr in Mühlheim, forderten in offenen Briefen an den zuständigen Richter seine unverzügliche Freilassung. Auch Bundestagsabgeordnete und der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Markus Löning protestierten. Vor der kasachischen Botschaft in Berlin überschütteten sich Demonstranten mit Blut.
Nach 20 Tagen Haft kam Atabajew frei. „Kundgebungen in Deutschland, England und Russland haben mich gerettet“, sagte Atabajew vergangene Woche in fließendem Deutsch auf einer Presseveranstaltung von Reporter ohne Grenzen in Berlin. „Deshalb sitze ich hier“. Er bedankte sich auch öffentlich beim Goethe-Institut, das sich hinter den Kulissen für ihn eingesetzt hatte.
"Künstler sollten immer in der Opposition sein"
Die Goethe-Medaille bedeute ihm sehr viel, sagte er, weil sie eine Auszeichnung der Zivilgesellschaft sei, und nicht der Regierung. Protestieren habe er bei Goethe, Schiller und Brecht gelernt. „Ich war im Knast, weil ich die Wahrheit gesagt habe“, meint er. „In Kasachstan bin ich ein Verbrecher, hier bin ich eine herausragende Persönlichkeit“.
Atabajew hat nach dem Verständnis der kasachischen Behörden im letzten Jahr den Fehler gemacht, sich zu lautstark für monatelang in Westkasachstan streikende Ölarbeiter, die höhere Löhne forderten, auszusprechen.
Zweimal, im Juni und im August 2011, war er in die Ölstadt Schanaosen gereist, um ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden. Er wollte die Behörden auf das Problem, das von den Staatsmedien verschwiegen wurde, aufmerksam machen. „Ich bin kein Politiker, sondern Künstler,“ so Atabajew. „Künstler sollten immer in der Opposition sein“.
Bisher war der Regisseur in Kasachstan unbekannt
Am 16. Dezember 2011, Kasachstans 20. Unabhängigkeitstag, gipfelten die Streiks in blutige Zusammenstöße zwischen den Ölarbeitern und Sicherheitskräften, bei denen mindestens 14 Menschen ums Leben kamen und über 100 verletzt wurden. Daraufhin verhängte Präsident Nursultan Nasarbajew den Ausnahmezustand über die Ölstadt, der erst Ende Januar aufgehoben wurde. Es begannen Repressionen gegen Oppositionspolitiker, Aktivisten und Journalisten, die über die Ereignisse berichtet hatten. Im Januar wurde Atabajew zum ersten Mal vom Nationalen Sicherheitsdienst (KNB) verhört. Vier weitere Verhöre sollten folgen. Ihm wurde verboten, Almaty zu verlassen.
Das Ausmaß der Proteste über Atabajews Verhaftung dürfte die Behörden überrascht haben. Obwohl er in Kasachstan eine Theaterlegende ist, war er bis letztes Jahr außerhalb der Künstlerkreise noch kein Haushaltsname. Bei seinem Staatsbesuch in Berlin im vergangenen Februar musste sich Nasarbajew noch Atabajews Namen notieren, als Außenminister Guido Westerwelle dem Präsidenten zur Auszeichnung des Regisseurs mit der Goethe-Medaille noch vor der offiziellen Bekanntgabe gratulierte. Es war die einzige handschriftliche Notiz Nasarbajews während des ganzen Treffens. Heute wäre das vermutlich nicht mehr notwendig.