Russland

Prozesswelle gegen die Zivilgesellschaft

Eines Tages waren die Haare ab. Weg mit der langen Mähne. Für Alexandra Duchanina, die 18-jährige Russin, brach eine neue Zeit an, eine aufregende, eine selbstbewusste, wie bei so vielen jungen Russen im vergangenen Dezember nach den umstrittenen Parlamentswahlen. Mit einer Kurzhaarfrisur läutete sie die Veränderungen ein. Und mit Aktionen gegen die Staatsmacht, die ihr nun bis zu 13 Jahre Haft einbringen könnten – weil sie für ein Russland ohne Putin kämpft.

Die Oppositionsführer halten die junge Brünette für eine „politische Gefangene“ und wollen heute (Donnerstag) für ihre Unterstützung tausendfach auf die Straße gehen, für sie und 13 weitere junge Verhaftete vom 6. Mai. Es ist eine genehmigte Aktion mitten in Moskau. So genehmigt wie auch die Aktion auf dem Sumpfplatz (Bolotnaja Ploschtschad) an jenem 6. Mai es war, einen Tag vor der Amtseinführung von Wladimir Putin als Präsident – bevor sie zu schweren Ausschreitungen führte und zum massiven Einsatz der Polizei. „Sumpfsache“ nennen es die Russen nur noch.

Seit der alt-neue Präsident zurück im Kreml ist, rollt eine regelrechte Prozesswelle über die erwachte russische Bürgergesellschaft hinweg

200 Spezialfahnder des Innenministeriums sollten daraufhin die Verantwortlichen ausmachen. Sie fahndeten und fanden: Alexandra Duchanina, die sich nun wegen „Teilnahme an Massenunruhen“ und „Gewaltanwendung gegen Vertreter der Staatsmacht“ verantworten muss. Steine soll sie geworfen und damit zwei Polizisten der Sonderpolizei OMON verletzt haben. Bis November steht sie unter Hausarrest, elf weitere Festgenommenen sitzen in U-Haft, zwei sind auf freiem Fuß, sie haben unterschreiben, die Stadt nicht zu verlassen.

Seit der alt-neue Präsident zurück im Kreml ist, rollt eine regelrechte Prozesswelle über die erwachte russische Bürgergesellschaft hinweg. Alexandra Duchanina ist nur ein kleines Schräubchen im Putin‘schen Apparat des politischen Drucks, in seinem Verständnis vom Schutz des Volkes vor „radikalen Aktionen“. Von bekannten Oppositionellen wie dem Blogger Alexej Nawalny oder Sergej Udalzow, dem Kopf der Linken Front, lässt der Staat – noch – die Finger weg. Zwar durchsucht er ihre Wohnungen und verurteilte sie mehrfach zu 15 Tagen Arrest, eine jahrelange Freiheitsstrafe wie bei Duchanina droht ihnen nicht. Es zöge ein enormes Echo nach sich, vor allem ein mediales. Das aber übernehmen bereits die Prostest-Punkerinnen von „Pussy Riot“ oder die Änderungen des Demonstrationsrechtes und die Registrierung von Menschenrechtsorganisationen, die sich aus dem Ausland finanzieren, als „ausländische Agenten“.

Einer Aktivistin von „Ein Russland für alle“ drohen drei Jahre Strafkolonie

Die Anhörungen von Duchanina und den 13 anderen Demonstranten, sie sind zwischen 18 und 37 Jahre alt, verlaufen meist still, aber nicht weniger absurd. Oleg Archipenkow, ein 27-jähriger Tourismus-Kaufmann, war laut eigener Aussage am 6. Mai gar nicht bei der Demonstration dabei, dennoch soll er einen OMON-Polizisten getreten haben. Maria Baronowa, Jahrgang 1984, wird „Anstiftung zu Massenunruhen“ vorgeworfen – weil sie gerufen hatte, die Menge müsse einer vorrückenden Polizistenfront standhalten.

Der Aktivistin von „Ein Russland für alle“ drohen drei Jahre Strafkolonie. Sie blieb zwar auf freiem Fuß, klagt seitdem aber über Einschüchterungen. So sei ihre Eingangstür mit Schimpftiraden beschmiert worden, auch hätten eines Tages zwei Frauen vor ihrer Wohnung gestanden – angeblich von der Fürsorge. Baronowa hat einen sechsjährigen Sohn, den sie nun vorsorglich an einen „sicheren Ort“ gebracht habe.
Die „6. Mai-Betroffenen“ sind Unternehmer, Arbeitslose, Studenten, verschiedener politischer Richtung. Ein Promovierter findet sich da ebenfalls wie ein Behinderter zweiten Grades. „Alle sozialen Schichten sind vertreten“, sagt Anna Sawra, eine der Verteidigerinnen, „der Staat zeigt damit, dass es jeden treffen kann und vermittelt: Liebe Leute, bleibt einfach zu Hause.“


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