Glückskind Lajos
Lajos Sarkany läuft stolz, Kopf hoch, durch die Gegend, seine dunklen Augen glänzen und verraten an den Rändern noch einen guten Sonntagsschlaf. Es ist wieder warm, die rund zehn winzigen bunten Häuser aus alten Paneelen, Karton, Plastikfolie und Blech spiegeln sich in den Pfützen vom letzten Regen wider. Der Weg führt erst an Wohnblocks mit halb verfallenen Häusern vorbei, dann an einem Friedhof und an der alten Zuckerfabrik, die seit den 1990er Jahren auf neue Investoren wartet. Rechts biegt ein Fußpfad zur Kneipe „Amnezia“ ab und weiter links befinden sich noch zwei kleine Straßen, danach hört die Stadt auf. Hier, am Rande der Brache, liegt das „Zigeunerviertel“, erklärt Lajos. „Szolnok ist nicht so groß, vom Bahnhof brauchst du nur eine halbe Stunde zu laufen, und schon bist du bei uns“, sagt der 13-Jährige.
Zwei Zimmer: Eins für die Jungs, eins für die Mädchen
Das Haus, in dem Lajos Sarkany mit seiner Mutter Monika und seinen vier Geschwistern wohnt, liegt im sogenannten „Zigeunerviertel“, es hat zwei Zimmer: „Eins für die Jungs, eins für Mama und die Mädchen.“ Seine Cousins und Cousinen, die in den benachbarten Häusern wohnen, kommen aber fast jeden Tag vorbei, manchmal schlafen sie auch in seinem Bett. An einer der Wände hängt ein kleines Porträt seines Onkels Bela, der ist Mutters Bruder und saß ein Jahr im Knast. Heute aber arbeitet er auf der Baustelle und hilft der ganzen Familie ab und an mit Geld.
Auf dem Bahnhof von Szolnok war Lajos Sarkany zuletzt im Frühjahr, als er nach Budapest fuhr, um in den Flieger einzusteigen: Richtung Berlin. Am nächsten Tag hat er endlich den Film gesehen, seinen allerersten, „Nur der Wind“. Lajos spielt darin die Hauptrolle, den Romajungen Rio, der versucht, sich soweit wie möglich um seine alleinerziehende Mutter und um seine Geschwister zu kümmern. „Ich habe lange gesucht nach einem Darsteller, der diesem Profil entspricht und der gewissermaßen sein Alter Ego ist“, sagt Regisseur Bence Fliegauf.
Beim Casting hat es gleich "klick" gemacht
Glückskind Lajos: In mehreren ungarischen Schulen und Dörfern hatte sich der Regisseur Bence Fliegauf Anfang 2011 nach einem jugendlichen Hauptdarsteller für seinen Film umgesehen. Lajos, der fröhlich und selbstbewusst wirkt, hat er in der Schule in Szolnok entdeckt. „Während des Castings hat es mit Lajos vom ersten Moment an ‚klick‘ gemacht, weil er psychologisch und von den Lebensumständen her meinem Protagonisten sehr nahe kommt“, erzählt Regisseur Fliegauf.
Die Mutter ist stolz. Monika Sarkany ist 35 Jahre alt. Die vier Kinder zieht sie alleine groß, seit der Vater verschwunden ist. Lajos weiß nicht mehr, wann das war. Ab und zu jobbt sie als Putzfrau. „Ich habe keinen Schulabschluss geschafft und konnte nie eine richtige Stelle finden“, sagt sie. Umso wichtiger sei es ihr immer gewesen, dass ihre Kinder zur Schule gehen und lernen. Und auf einmal kommt Lajos zum Film. Und sogar bis nach Deutschland.
Ein Leben am Rand der Gesellschaft
„Das war mein erstes Mal in einer Maschine, aber ich hatte keine Angst. Die Reise hat ja kaum vier Stunden gedauert“, erzählt der Junge. Am Flughafen holte ihn Bence Fliegauf, der Regisseur, ab und sie fuhren weiter in ein großes Hotel, direkt am Potsdamer Platz, im Herzen der deutschen Hauptstadt.
„Es gab einen riesigen Bildschirm, mit hunderten von Zuschauern im Kinosaal“, erinnert sich Lajos an die Vorführung. Danach waren noch die Pressekonferenz und die Fotosession, mit den Produzenten und vielen Journalisten. Schließlich kam der wichtigste Moment, auf den alle gewartet hatten: Die Preisverleihung, bei der Bence den Silbernen Bären bekam. Für sie, die Hauptdarsteller, wurde ein langer roter Teppich ausgerollt und sie durften sogar mit Bence in einer schwarzen Limousine durch die Stadt fahren. Noch immer ist Lajos ein bisschen aufgeregt, wenn er davon erzählt.
Der Film „Csak a szel“, zu Deutsch „Nur der Wind“, hat allerdings einen weniger glamourösen Hintergrund: Er thematisiert das Leben der Roma am Rande der ungarischen Gesellschaft. Die Geschichte, die der Film erzählt, ist fiktiv – basiert aber auf traurigen realen Ereignissen: Er behandelt die Serie rassistischer Gewalttaten gegen Roma, die 2008 und 2009 Ungarn erschütterten und sechs Todesopfer verlangten. Es hatte mehr als zwei Jahre gedauert bis vier der mutmaßlichen Täter, alle mit Verbindungen zum rechtsextremen Milieu, endlich gefasst wurden.
Roma waren die ersten Opfer der Reformen
Etwa 600.000 Roma leben in Ungarn. Nach der Wende wurden die Roma in Ungarn, wie auch in anderen postsozialistischen Ländern, die ersten Opfer der Wirtschaftsreformen und der gesellschaftlichen Transformation. Bis heute hat sich an ihren Lebensbedingungen und Bildungschancen wenig verbessert. Etliche wurden mit der Schließung der alten, bankrotten Fabriken entlassen und konnten wegen ihres niedrigen Ausbildungsgrads nie wieder eine Arbeitsstelle finden.
Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 zog die rechtsradikale und antisemitische Partei Jobbik in die Nationalversammlung ein und wurde mit 16 Prozent der Stimmen zur drittstärksten politischen Kraft im Land. Die rechtspopulistische Fidesz von Viktor Orban gewann mehr als zwei Drittel der Sitze nach einem Wahlkampf, in dem sie viele Themen von Jobbik aufgegriffen hatte.
Improvisieren ist alles
In der Straße, in der Lajos lebt, gibt es weder laufendes Wasser noch Gas. Junge Frauen holen volle Eimer aus den kleinen Brunnen neben ihren Häusern, geheizt wird, wenn überhaupt, mit Holz aus dem benachbarten Wald. Der Energieversorger hat in der ganzen Gegend längst den Strom abgestellt, doch „zum Glück lässt sich meist etwas improvisieren“, sagt Monika Sarkany, die Mutter der Familie. „Seit Jahren hat die Kommunalverwaltung versprochen, unsere Häuser zu renovieren. Unter der jetzigen Regierung gibt es sogar ein neues Programm, speziell für Familien mit vielen Kindern. Doch bis heute ist nichts passiert“, berichtet die 35-Jährige.
Zwar präsentierte die Orban-Regierung 2011 öffentlichkeitswirksam eine neue Roma-Strategie. Doch dem neuen Papier sind „kaum neue, konkrete und ernstzunehmende Vorschläge“ zu entnehmen, wie Sinan Gökcen vom European Roma Rights Center in Übereinstimmung mit den anderen ungarischen und internationalen NGOs ausdrückt. Eine tiefgreifende Reform des Arbeitsrechts setzt den Kündigungsschutz so gut wie außer Kraft, verkürzt das Arbeitslosengeld auf drei Monate und verpflichtet die Arbeitslosen zu gemeinnütziger Arbeit. „In der Praxis kommt das der Zwangsarbeit gefährlich nah und die Roma sind bisher die am stärksten betroffene Kategorie“, erklärt Gökcen.
Als Regisseur Bence Fliegauf im Frühjahr 2011 mit seiner kleinen Crew plötzlich vor dem Haus der Sarkanys stand, konnte die Familie kaum glauben, dass jemand aus Budapest sich für sie interessiert und ihnen von Dreharbeiten und Proben erzählt.
Kaum Geld - aber Bildung
Als Schauspieler probte Lajos mehrere Monate lang. Immer wieder holte ihn jemand von der Filmcrew morgens zu Hause ab. „Wir haben alle vier Wochen lang am Rande eines Dorfs in einem großen Haus gelebt und gedreht, bis der Film fertig war. Es war manchmal anstrengend, aber es hat auch viel Spaß gemacht“, erinnert sich Lajos.
Das Einzige, was Lajos aus dieser Zeit geblieben ist, ist „ein dickes Heft, in dem alle Filme drin sind, die in Berlin gezeigt wurden“. Das haben ihm die Organisatoren mitgegeben, und irgendwo auf einer Seite in der Mitte ist auch sein Bild. „Dazu gibt es Erklärungen auf Englisch, aber ich kann noch nicht alles verstehen, in der Schule sind wir noch nicht so weit“, sagt der Junge. Die spannende Reise, seine allererste ins Ausland, dauerte nur drei Tage. Da hatte er kaum Zeit, um sich alles näher anzuschauen. An eine Sache erinnert er sich aber sehr gut: Ihm wurden die bunten Reste einer Mauer gezeigt, die vor vielen Jahren die Stadt in zwei Hälften teilte.
„Wir haben uns natürlich große Hoffnungen gemacht“, erzählt Lajos‘ Mutter Monika Sarkany. Viel Geld habe es für den Film aber nicht gegeben. „Für uns hat sich seitdem wenig geändert. Ab und an kommen die Produzenten und helfen uns mit Kleidern oder Lebensmitteln“, sagt sie und fügt hinzu: „Wichtiger ist aber, dass sie Lajos ab September an eine bessere Schule in Budapest schicken werden. Er wird zumindest eine Chance im Leben bekommen.“
Glückskind Lajos: Anders als im Film und in anderen Gegenden Ungarns hat noch kein rassistisch motivierter Gewehrschuss den Alltag in Szolnok unterbrochen. Lajos und seine Familie müssen nicht in ständiger Angst leben. Nach dem Spielen draußen kehrt Lajos Sarkany am Nachmittag nach Hause zurück. Er muss noch Hausaufgaben machen: „Wenn ich groß bin, werde ich Schauspieler“, sagt er.