Versteckte Willkür
Aus den drei Seiten sind 23 geworden. 23 vollgeschriebene Blätter voller Änderungsvorschläge. Einen Schal dürfe man nicht tragen, damit ließe sich schließlich das Gesicht verstecken, die sogenannte Persönlichkeitsfeststellung würde erschwert. Auch metallische Gegenstände seien verboten, die könnten ja als Waffen verwendet werden. Wenn Russen sich öffentlich versammeln wollen, vor allem die Regierungsgegner, sind sie vielerlei Einschränkungen unterworfen. Nun soll das Versammlungsgesetz noch verschärft werden. Zwar prüft Russlands Präsident Wladimir Putin noch die Vorlage, der beide Parlamentskammern zugestimmt haben, doch das ist nur eine Formalie. Bereits am 12. Juni soll das Gesetz greifen. An diesem „Tag der russischen Nation“ will die Opposition wieder Zehntausende von Regierungsgegnern auf die Moskauer Straßen bringen.
Vor allem die drakonischen Geldstrafen sollen die Menschen vom Demonstrieren abhalten. Das ist die Hoffnung der Kremlpartei „Einiges Russland“, die das Gesetz in die Duma einbrachte. Einzelne Personen könnten demnach zu Strafen in Höhe von bis zu 300.000 Rubel (umgerechnet etwa 7.000 Euro/8.000 Franken), Organisationen bis zu einer Million Rubel (24.000 Euro/29.000 Franken) verurteilt werden. Die Strafen sind 150 Mal höher als bisher. Als Widergutmachung kommen auch 200 Sozialstunden in Frage. In Deutschland werden Verletzungen des Demonstrationsrechts mit bis zu 500 Euro geahndet.
„Es geht hier gar nicht um die Strafen“, meint der Journalist Sergej Parchomenko, der seit der offensichtlich gefälschten Parlamentswahl im Dezember mehrere Großdemonstrationen in Moskau organisiert hat. „In diesem Gesetz steckt das absolute Verwischen des Begriffs ,Protestaktion‘. Jede Versammlung mit einer beliebigen Anzahl von Menschen an jedem Ort zu jedem beliebigen Anlass kann nun zu einer Massenaktion erklärt und ihre Organisatoren bestraft werden. Das ist das Problem, nicht das Geld.“
Als Verstoß gegen das russische Versammlungsgesetz gelten etwa das Tragen von Masken oder organisierte Spaziergänge durch die Stadt. Zu eben solchen „Kontrollspaziergängen“ hatten sich Regierungsgegner in den vergangenen Wochen mehrmals getroffen und waren zu Zehntausenden unterwegs. „Das Regime ist von der Aktivität der Menschen so erschrocken, dass es nun eben diesen Menschen Angst einjagen will. Stattdessen sorgt es aber dafür, dass sie sich aus Verbitterung weiter radikalisieren und noch aktiver werden“, sagt Sergej Udalzow. Der Kopf der oppositionellen Linken Front saß nach Antiregierungsdemonstrationen mehrmals hinter Gittern, der Kampf gegen das Regime Putin bleibe auch weiterhin sein Leben, Bußgelder hin oder her.
Fast zwölf Stunden hatten die Duma-Abgeordneten um die Änderungen gestritten, am Ende verließen gar einige von ihnen den Saal, doch gebracht hat es wenig: 241 von 450 Parlamentariern verabschiedeten schließlich das Gesetz. 226 Stimmen waren nötig. Allein „Einiges Russland“ hat 238 Sitze in der Duma. Auch im Föderationsrat, Russlands Oberhaus, sprachen sich 131 Senatoren für die Verschärfung aus, nur einer lehnte den Entwurf ab, ein weiterer enthielt sich. „Russland hat seine Verfassung abgeschafft“, schrieb daraufhin ein Blogger. Tatsächlich offenbart das geänderte Gesetz die vollkommene Willkür. Nun ist sie juristisch untermauert.