Tödlicher Wehrdienst
Auf Natalja Ussatschowas T-Shirt funkelt ein deutscher Satz: „Schließ die Augen“, steht da. Natalja Ussatschowa versteht die Worte nicht. Sie versteht ohnehin wenig in diesen Tagen. Wie auch? Ihr Sohn ist weg. Getötet. Sich selbst? Vom Vorgesetzten, weil er keine 750 Euro zahlen konnte? Die Fragen bleiben, wie auch die Tatsache, dass Alexander, ihr „Sascha“, nie mehr aus seiner Moskauer Kaserne zurückkehren wird.
Natalja Ussatschowa sitzt in ihrer Küche, Galja ist gekommen, ihre Nachbarin und Freundin. Ihr Sohn habe die Vorladung zu medizinischen Untersuchungen für den Wehrdienst bekommen, erzählt Galja. „Du musst alles tun, damit er nicht dahin kommt. Alles, hörst du?“, sagt die 47-Jährige Natalja. Galja und sie sind still.
Es ist eine Szene, wie sie sich oft abspielt in Russland. Nicht nur in Juschny, einem Dorf an der Wolga etwa 250 Kilometer nördlich von Moskau. Nicht nur hier versuchen Eltern und Rekruten, der Armee zu entkommen, mit allen Mitteln der Brutalität in Kasernen zu entfliehen. Sie schmieren die Beamten, lassen ihre Söhne im Ausland studieren. „Vielleicht hätte ich 100.000 Rubel – umgerechnet 2.500 Euro – bezahlen sollen, dann wäre Sascha noch am Leben“, sagt Natalja Ussatschowa.
Die Armee Russlands ist die fünftgrößte der Welt mit knapp 1,2 Millionen Angehörigen. Sascha Ussatschow musste hin – und wollte auch. Polizist war sein Traumberuf, oder wenigstens Feuerwehrmann. Berufe, für die in Russland der Wehrdienst Voraussetzung ist. Und ein Jahr, was ist das schon? Vor dem 1. Januar 2008 waren es noch zwei Jahre, in den 60ern gar drei. Sascha kannte keinen Mann, der nicht beim Militär war.
Am 6. November 2009 trat er seinen Dienst an. Kaserne Nummer 61.988, Tjoply Stan, Moskau. Er war einer der 279.000 Einberufenen – und einer von neun Toten seines Jahrgangs. Mehr als 3.000 „nicht statutgemäße Beziehungen“, wie die Armeesprache die brutale Herrschaft der Älteren über die Jüngeren, die systematische Misshandlung der Soldaten, nennt, ereigneten sich allein 2009. Militärstaatsanwalt Sergej Fridinski legt jedes Jahr Statistiken vor. Seit Jahren steigen die Zahlen. Dabei hätten sie abnehmen sollen, sagt Fridinski, denn die Dienstzeit wurde verkürzt.
Es gibt auch offizielle Stellen, an die sich die Gepeinigten in ihrer Not wenden können. 2009 gab es 2.663 Missbrauchsfälle, 2010 ein Drittel mehr. Im vergangenen Jahr wurden 1.400 Soldaten und Offiziere, die Wehrdienstleistende misshandelten, verurteilt, doppelt so viel wie noch ein Jahr zuvor. Viele Täter werden nicht verurteilt, weil das Militär nach wie vor die Augen davor verschließe, beklagen Menschenrechtsorganisationen. Auch in diesem Jahr gab es bereits fünf Tote.
„Das Armeesystem Russlands ist ein Schachspiel. Die jungen Soldaten sind die Bauern, sie fliegen als Erste.“ Die Journalistin Veronika Martschenko wählt drastische Worte. Die 42-Jährige ist die Vorsitzende der Stiftung „Das Recht der Mutter“, einer aus dem Ausland finanzierten Organisation in Moskau, die sich um die Familien der getöteten Soldaten kümmert. Seit 1989, als eine Mutter die Journalistin anrief und von ihrem toten Sohn sprach, engagiert sich Martschenko in dem Bereich. Sie traf sich mit ihr, verfasste später einen Text. „Rost“ hatte sie ihn genannt, beschrieb darin die Demütigungen des Soldaten Sascha Alurdos. Nach sechs Monaten nahm dieser den Strick.
Sascha Ussatschow schoss sich nach vier Monaten in den Kopf. Am 29. März 2010 rief ein Oberst an, sagte, was Natalja Ussatschowa nie hören wollte. Sie fiel um. Vier Mal hatte sie ihren Sascha gesehen, seit er in der Kaserne war. Die Haare kurz unter der grauen Armeemütze. „Es geht mir gut, Mama“, sagte er. Sie gab ihm Geld. Immer wieder. 150 Rubel (nicht einmal vier Euro), dann 8.000 Rubel (200 Euro) für den Führerschein.
30.000 Rubel (750 Euro) konnte er nicht mehr aufbringen. 30.000, von denen sie erst später hörte, im Gericht. Auf der Anklagebank vor ihr: der 24-jährige Wladimir Frisen, der Offizier ihres Sohnes. Soldaten erzählten von systematischen Geldforderungen Frisens, von Streit mit Alexander Ussatschow. Keiner hatte den Schuss gehört. Am Morgen danach fand man die Leiche.
Die brutale Herrschaft der Stärkeren über die Schwächeren prägt seit Jahrhunderten die russische Armee. Häufig konfiszieren die Offiziere den privaten Besitz ihrer Soldaten, nehmen sich ihre Essensrationen, den Sold. Sie missbrauchen sie als Arbeitssklaven, verleihen sie als Fremdarbeiter an Firmen. Sie prügeln und vergewaltigen. Als „Dedowschtschina“, als Herrschaft der Großväter, bezeichnen die Russen diese Praktiken. Das Wort steht in jedem modernen russischen Wörterbuch und schreibt sich längst ohne Anführungszeichen. Es ist jedem ein Begriff. Bereits im 19. Jahrhundert tauchten die ersten „Dedowschtschina“-Fälle auf. 1919 quälten drei Soldaten in der Roten Armee einen Kameraden zu Tode. Erst seit 1982 werden die Gewaltfälle untersucht.
Manchmal schließt Natalja Ussatschowa die Augen, träumt sich weg. Doch es gibt nichts, was sie aus der engen Ein-Zimmer-Wohnung in diesem fünfstöckigen grauen Backsteinbau entreißen könnte. Zu viert haben sie hier gelebt. Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Jetzt sind nur noch sie und ihr Mann Wladimir da, Tochter Marina ist ausgezogen, erwartet ein Kind. Ihr Sohn hinterließ nichts, keinen Abschiedsbrief, keine Erklärungen. „Warum?“ Natalja Ussatschowa bleiben nur die Gedanken, die Erinnerungen.
Sieben Monate und 17 Tage nach Alexander Ussatschows Beerdigung sprach der Richter sein Urteil: „4,5 Jahre Strafkolonie für den Offizier wegen Korruption und Überschreitung der Kompetenzen mit schwerwiegenden Folgen.“