Reise in die frühen Sowjetjahre
Schön sieht das Haus nicht aus. Eine Sehenswürdigkeit ist es trotzdem. Nur wenige Touristen finden den Weg in die Mjasnizkaja Straße 47, wo das ehemalige sowjetische Handelsministerium steht; ein siebengeschossiger Bau aus grauem Stahlbeton und großen Glasscheiben.
Der Architekt Peter Knoch zeigt bei seiner Stadtführung durch Moskau genau solche Gebäude. Er führt die Touristen auf den architektonischen Spuren der jungen Sowjetunion durch die russische Metropole. Es ist eine Reise in die Zeit des Konstruktivismus, der sowjetischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre. Peter Knoch lebt seit 2003 in Moskau und bietet verschiedene Architektur-Führungen durch die Metropole an. Vor kurzem hat er ein Buch („Architekturführer Moskau“) über die architektonischen Sehenswürdigkeiten Moskaus veröffentlicht.
Die Sowjetunion stand in den 20er Jahren an der Spitze der Weltarchitektur, erklärt Knoch. In einer Zeit, in der Baumaterial und Fachwissen begrenzt waren, galten die modernen Gebäude als Pilotprojekte, als Non-Plus-Ultra des Möglichen. Doch das sollte sich bald ändern. Stalins Plan, Moskau zur Welthauptstadt des Kommunismus auszubauen, führte zu monumentalen Bauvorhaben. Im Gegensatz zu diesen bombastischen Bauten findet die Avantgarde oft nur wenig Beachtung. Hinzu kommt: Moderne Architektur erschließt sich nicht ohne Erklärung. Sie ist nicht einfach hübsch anzusehen wie die orthodoxen Kirchen mit ihren verspielten Zwiebeltürmen. Das ehemalige sowjetische Landwirtschaftsministerium am Gartenring zum Beispiel ist auf den ersten Blick leicht zu übersehen. Dabei ist das Gebäude ein „Lehrbeispiel, wie man Fassaden verbindet“, erklärt der Architekt. Statt Kanten führen hier Balkone, Fensterbänder, Loggien und eine Uhr um die Ecke.
Die Reise in die frühen Sowjetjahre ist eine Stadtführung durch ein Moskau, das auf Postkarten nicht zu finden ist. Auch das zweite Objekt auf Knochs Exkursion, in der Mjasnizkaja 39, übersehen Touristen gerne. Einst war es Sitz des Verbands sowjetischer Gewerkschaften, heute ist es die Statistikbehörde des Landes. Die junge Sowjetunion diente damals manchem Architekten aus dem Westen als Experimentierfeld. Der berühmte schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier hat das Gebäude geplant. Später distanzierte er sich allerdings von seinem Entwurf, zu sehr war man bei der Umsetzung von seinen Vorstellungen abgewichen.
Die einst hell rosafarbene, fast weiße Fassade aus armenischem Tuffstein ist heute schmutzig grau, fast schwarz. Ein Beleg dafür, dass auf die Instandhaltung der avantgardistischen Gebäude kein Wert gelegt wird. Nach dem Zerfall der Sowjetunion vor 20 Jahren wurden die Bauten der Moderne, die „Kinderkrankheiten der Sowjetunion“, häufig vernachlässigt. Stadt und Staat zeigten wenig Interesse an den historischen Bauten. Viele Gebäude wurden geschlossen oder untervermietet, Sanierungen neuer Investoren führten oftmals zum Verlust der Originalsubstanz.
Der Arbeiterclub Rusakow ist so ein Beispiel. Knoch hat die Gruppe inzwischen in den Norden der Stadt geführt, in die Nähe des Sokolniki-Parks. Der Arbeiterclub diente einst als Kantine und Versammlungsraum der Straßenbahnbetriebe. Seit Mitte der 90er Jahre gibt es darin zwar ein kleines Varieté-Theater, doch es fehlt das Geld, das Gebäude in Stand zu halten. Der Putz blättert, Fensterscheiben haben Risse.
Dass es auch anders geht, zeigt das alte Busdepot in der Obraszowa Straße mit dem markanten Grundriss in Trapezform. Im Jahr 2009 wurde das alte Depot saniert und ist heute eine bekannte Galerie für zeitgenössische Kunst, die „Garasch“. Für den Architekten ein gutes Beispiel, was man aus den alten Avantgarde-Gebäuden machen kann – sofern Interesse und Geld vorhanden ist. Verantwortlich für die Galerie ist Darja Schukowa, die Partnerin von Milliardär Roman Abramowitsch.
Infos zu den Führungen:
Verein Guiding Architects: www.ga-moscow.com
Peter Knoch: Architekturführer Moskau. Herausgegeben von Philipp Meuser. 472 S. DOM Publishers
Oliver Bilger
ENDE
Nachdruck und Weiterverwertung dieses Berichts sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost Büro unter 030 259 32 83-0.