Die Entführung Osteuropas
Es ist nicht einfacher geworden, eine spannende Reportage über Osteuropa zu schreiben. Zu oft stellt sich das Gefühl ein, sie schon einmal gelesen zu haben. Zu oft tritt der Osten als arm, depressiv, von lauter Verlierern bevölkert in Erscheinung. Ein zivilgesellschaftliches Engagement, eine Selbsthilfe ist schon eine Heldentat in diesem Tal der Tränen.
Der Schreibende beschreibt nicht die Wirklichkeit. Er sortiert sie, färbt sie mit seiner eigenen Gesinnung. Man fragt sich, ob der Blick der Schreibenden auf Osteuropa nicht zu sehr geprägt ist von einer spezifisch deutschen Geschichtsfixierung, von genuin europäischen Zukunft- und Abstiegsängsten, von dem schleichenden Gefühl, als Europäer sich an der Peripherie der pulsierenden Welt wiedergefunden zu haben und nun das Schicksal der zurückgebliebenen und verspäteten Nachbarn teilen zu müssen. Man ist nicht mehr sicher, ob die östlichen Nachbarn wie immer zu spät ankommen oder bereits auf einer Überholspur sind. Es kommt auf die Richtung der Bewegung an. Noch vor zehn Jahren schien sie vorgegeben zu sein: Ab in den Westen. Heute, 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges, spielt der Kompass verrückt.
Die Teilung Europas im Kalten Krieg und der mörderische Kampf der Systeme ließen einen ideologisch und politisch hoch aufgeladenen geografischen Raum entstehen: Osteuropa. Manchmal wurde diese Konstruktion als Mittel- und Osteuropa bezeichnet. Das war eine Besatzungszone, in der es zu einer Negation des Westens gekommen war: der abendländischen Zivilisation, ihrer Werte, ihrer gesellschaftlichen Ordnung und wirtschaftlichen Prosperität. Sie fungierte als Quelle von Feind- und Fremdbildern und diente als Projektionsfläche für Ängste oder Sehnsüchte. Erst mit Prager Frühling und Solidarnosc begann in den Köpfen westeuropäischer Intellektueller der Monolith Osteuropa auseinanderzudriften. Es fand eine Erweiterung des mentalen Raums über den Eisernen Vorhang hinaus statt. Es entstand die Mitte, die ostwärts liegt, ein Ort der verschütteten gemeinsamen Zivilisation, die langlebiger und fruchtbarer erschien, als der verordnete Sozialismus.
Nach dem Ende des Sowjetimperiums begann die Rückkehr dieses Raums nach Europa. Der Aufbruch in den Westen wurde auch von dem Versprechen und der Hoffnung auf blühende Landschaften getragen. Allerdings entpuppte sich die westliche Realität als nicht so perfekt, als ziemlich prosaisch und anstrengend, vor allem blieb aber vielen der Zugang zu blühenden Landschaften verwehrt.
Gewiss war 1989 eine historische Zäsur. Doch schon ein Jahrzehnt später stellte sich heraus, dass eine andere Zäsur radikaler sein könnte, und dass die Europäer keine Antwort darauf hatten. Es geht um die Globalisierung, die sowohl die Bedrohung durch den Islamismus vor die eigene Haustür trug als auch den Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht in Gang setzte. Diese Entwicklung hat das weltpolitische Gewicht des Westens schrumpfen lassen. Die historische Zeit der atlantischen Vorherrschaft und damit auch der „universalen Werte“ scheint sich ihrem Ende zuzuneigen. Deshalb klingt heute die westliche Rhetorik der Demokratie und Menschenrechte so hohl und hilflos, deshalb kann der Westen kaum einen Einfluss auf die Ereignisse in der arabischen Welt, in Weißrussland und sonst wo nehmen. Die Weltwirtschaftskrise, die auch eines der Symptome des westlichen Niedergangs ist, führte vor Augen, dass für Westeuropa keinesfalls nur der unverbesserliche „nahe Osten“ als Sorgenkind übrig geblieben war.
Die Symptome einer Regression findet man nicht nur im Osten. Plötzlich geriet „Südeuropa“ – Griechenland, Portugal, Italien – ins Wanken, während Polen die Krise besser meistern konnte als die Kernländer. Gleichzeitig entwickelt sich das EU-Mitglied Ungarn allmählich zu einer „gelenkten Demokratie“, während die Ukraine sich der Reste der bürgerlichen Revolution entledigt und Weißrussland eine ekelhafte Diktatur abgibt. Die politische Geografie der aus dem Sowjetblock hervorgegangenen Staaten zeigt, in welchem Maße sie – in Gutem wie in Schlechtem – in ihre vorsowjetische Geschichte zurückgekehrt sind: Die Balten ins protestantisch geprägte Nordeuropa, Polen und Tschechien in die Mitte.
Die orthodoxen Slawen haben es jedoch nicht geschafft, eine funktionierende Zivilgesellschaft und stabile demokratische Institutionen zu etablieren. Damit schwindet aber das Besondere dieses imaginären Raumes. Er wird wahrgenommen als eine Gemengelage peripherer, sich allmählich entvölkernder und stagnierender Staaten. Eine positive Ausnahme ist Georgien, das aber infolge der russischen Besetzung von Teilen seines Territoriums destabilisiert wird. Dieses Osteuropa scheint die Zeit der Hoffnungen, des Aufbruchs hinter sich gelassen zu haben. Eine Patina der Melancholie liegt über dem Raum. Kein Wunder, dass sich die Medien den anderen, aufregenderen Regionen zuwenden.
Zugleich ist der Schwund des Interesses für diesen Raum eine Herausforderung für Journalisten und Reporter, die aus den osteuropäischen Ländern berichten. Wird man zum Chronisten des Verfalls und der Regression, sucht man nach Exotik und Restfolklore oder entwickelt man einen anderen, frischen Blick?
Ja, es ist schwer geworden, über Osteuropa zu schreiben. Allerdings könnte eine Reflexion darüber zu einer Selbstbefreiung von gewohnten Stereotypen, zum schärferen Sehen und Hören beitragen. Ist Osteuropa noch da? Und wenn ja: Wo kann man es wiederfinden?