Putin-Kult im Zeltlager
Sie ist eine „Auserwählte“. Mit einem Lächeln auf den Lippen und ganz klaren Vorstellungen, was sie will. Im Leben, im Beruf. Rimma Tuktassynowa ist 22 Jahre alt. Sie studiert Fernsehjournalistik im fernen Sibirien. „Das Leben ist eine Rolltreppe. Ich fahre schnurstracks nach oben.“ So steht sie da zwischen Kiefern und tausenden von Zelten in einem Wald auf halber Strecke zwischen Moskau und St. Peterburg, lässt sich hier triezen und überwachen. Für ihren Traum vom Erfolg.
Zusammen mit 20.000 Jugendlichen aus allen Teilen Russlands und der Welt durchläuft sie das Seliger-Lager der russischen Regierung – ein neuntägiges Sommercamp in einem nordwestrussischen Seengebiet, das neben Lagerfeuer-Romantik vor allem streng getaktete Lehrstunden in Sachen Politik und Wirtschaft bietet – direkt unter den Konterfeis des russischen Führungsduos Dmitri Medwedew und Wladimir Putin.
Das Leben der Auserwählten ist hart. Rimma hat es längst begriffen. Als Einzige aus ihrer Region hat sie das Aufnahmeverfahren überstanden, die regionale Verwaltung mit ihren Projekten überzeugt. „Mein Sieg.“ Ruhe hat sie hier nicht gefunden. Sie hat sie auch nicht gesucht.
Pünktlich um 8 Uhr morgens ertönt die russische Hymne. Sie dröhnt aus den Lautsprechern im Wald. Wummernde Bässe folgen. „Los, Russland, los. Noch 15 Minuten bis zur Morgengymnastik…, noch zehn…!“ Rimmas Zelt steht am Rande des Lagers, zur Hauptbühne dauert es zehn Minuten. Im Laufschritt. Dort kreist die Animateurin mit den Hüften. Aerobic für die Mädchen, ein Vier-Kilometer-Waldlauf für die Jungen. „Ich hasse Sport“, wird Rimma später sagen. Auf einer Plane hinter ihr beschwört ein riesiges Porträt von Premier Putin das „prosperierende Russland, das beste Land der Welt für die talentiertesten, selbstbewusstesten Bürger“.
Seit 2005 versammeln sich Tausende von Jugendlichen im Seliger-Lager, das die kremlnahe Jugendorganisation „Naschi“ (Die Unsrigen) gegründet hat. Die Ursprungsidee: sich nicht nur ideologisch, sondern auch für den Straßenkampf zu stählen. „Naschi“ ist ein polittechnologisches Projekt der Ära Putin, eine raffinierte Kopfgeburt des Staates vor dem Hintergrund der farbigen Revolutionen in der Ukraine und in Georgien. An der damaligen Spitze: Wassili Jakemenko, ein schneidiger Mittdreißiger, der einst in der Kreml-Administration aushalf. Ganz neu sind die Lager nicht. Die „Naschisten“, wie Kritiker die kremltreue Jugend nennen, lassen alte Sowjettraditionen wieder aufleben. Tausende junge Pioniere durchliefen bis in 90er die Lager wie Artek und Orljonok am Schwarzen Meer. Samt Morgenappell und patriotischen Liedern.
Auch die „Naschi“ besingen gern die Größe Russlands. Zudem setzt das Lager auf Karriereförderung und Networking: Dieses Jahr gibt es die Sektionen „Unternehmen“, „Politik“, „Internationales“, „Informationskanäle“, „Technologie der Wohltat“. Organisiert wird es nun von der staatlichen Agentur für Jugendbelange. Der Leiter ist wieder Wassili Jakemenko. Seliger 2011 preist sich als Bildungs- und Innovationsforum, will auch Ausländern ein fröhliches Gesicht Russlands zeigen. Kosten: rund fünf Millionen Euro. Die Jugendlichen zahlen umgerechnet 60 Euro. Ein günstiger Ausflug.
Der Leistungsgedanke lockt auch die 21-jährige Brasilianerin Sarah Teixera Morello an den russischen Seliger-See. Sie will vor allem Kontakte knüpfen. „Wenn unsere Generation später an der Macht ist, wird das für ein besseres Verständnis zwischen unseren Ländern sorgen.“ Noch setzt sie auf Körpersprache. „Hier spricht ja kaum ein Russe Englisch.“ Sie selbst kann nicht entziffern, dass auf den Plakaten quer durch den Wald von der Besonderheit des russischen Volkes die Rede ist, das sich durch Klugheit und Stärke von allen anderen unterscheide. Sie erkennt nicht die „Heldenallee“ entlang des Holzsteges, auf dem sich ein gewisser Sascha für seine verlorenen 37 Kilogramm feiern lässt und ein Nikita seinen „nordischen Charakter“ offenlegt.
„Seliger ist ein Russland im Kleinen. Hier gibt es Leute aus unterschiedlichen Nationen, Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker. Hier herrscht eine gesunde Lebenseinstellung, kein Alkohol, keine Drogen“, sagt Irina Narykowa, die 20-jährige „Naschi“-Kommissarin. Zum vierten Mal ist sie dabei, ein alter Hase. Sie sitzt vor dem „Ewigen Feuer“, zusammengelegten Hölzern, die in einem roten Stern brennen, wacht darüber, dass es nicht ausgeht. Vor ihr liegt ein dickes Buch. „Die Erinnerung an die großen Taten der glorreichen Sowjetunion“ steht in goldenen Lettern darauf. „Russland wird wieder auferstehen. Wladimir Putin ist der beste Mann dafür“, sagt Irina.
Nach einzelnen regionalen Sektionen geordnet, stehen die Zelte im Wald. Es werden Brei und dünner Tee serviert. Es gibt Kletterparcours und Kanu-Wettbewerbe, Volleyballfelder und Fußballspiele. Ein Internetcafé und Plasma-Bildschirme, die an den Bäumen hängen, spiegeln die Absurdität dieser Mischung aus Lagerfeuer-Romantik und hartem Programm. Wachposten sorgen dafür, dass die Jugendlichen ihre Vorlesungen besuchen, meist kommen Unternehmer und Politiker, berichten von ihrem Erfolg. Verstoßen die Camper gegen die Lagerregeln – das Gelände allein verlassen, Alkohol hineinschmuggeln, nicht zur Morgengymnastik erscheinen – gibt es ein Loch im Lagerausweis. Drei Löcher bedeuten den Rausschmiss. „Disziplin ist wichtig im Leben“, sagt Rimma, die Ehrgeizige. Und gewisse Werte. Familie, Kinder, Erfolg. „Sex ist schön und nützlich“, heißt es im Lager. Neun Paare geben sich in Seliger in einer Massenhochzeit das Ja-Wort.
„Manches ist wirklich fragwürdig“, sagt der 23-jährige Pjotr Gussatschenko aus St. Petersburg. „Aber ich habe gelernt, vor allem Zweifelhaften die Augen zu verschließen, alles Negative zu verdrängen.“ Auch er – ein „Auserwählter“, auf den das neue Russland baut.