Vilnius als Zentrum der belarussischen Opposition
Juri Aleinik kann den 19. Dezember nicht vergessen. Am Tag der Präsidentschaftswahl in Belarus musste er mitansehen, wie der Oppositionskandidat Wladimir Nekljajew von vermummten Polizisten bewusstlos geprügelt wurde. Aleinik hatte Nekljajews Wahlkampfbüro in Minsk geleitet und 350 junge Unterstützer koordiniert. Am Abend protestierte er mit 30.000 Menschen im Zentrum von Minsk gegen die Fälschungen des Regimes von Alexander Lukaschenko. Als die Sicherheitskräfte die Versammlung gewaltsam auflösten, versteckte sich Aleinik mit einem Freund in einer konspirativen Wohnung.
„Wir sahen die Berichte im Fernsehen und recherchierten im Internet. Uns war klar: Wir sind in Gefahr“, erinnert sich der 26-Jährige. Die beiden flüchteten: Ein Bekannter fuhr sie im Auto über die belarussisch-russische Grenze, wo kaum Passkontrollen stattfinden. Von Sankt Petersburg aus ging es nach Finnland und dann weiter mit der Fähre nach Estland. An Weihnachten kamen sie in Vilnius an: „Wir wollten hierher, denn die Stadt liegt in der EU und ist nur 30 Kilometer von der Heimat entfernt.“
Sechs Monate später sitzt Aleinik in einem Straßencafé in Vilnius, doch die barocke Architektur der Altstadt interessiert ihn kaum. Seine Gedanken sind in Belarus, wo er wie viele Mitstreiter einen Schauprozess fürchten muss. Aleinik ist nicht allein: Zwölf weitere Oppositionelle sind mit ihren Familien nach Litauen geflohen. Zudem studieren 1.800 Belarussen an der Europäischen Humanistischen Universität (EHU), die 2005 in Vilnius eröffnet wurde, nachdem Lukaschenko die Hochschule geschlossen hatte. Mehrere Nichtregierungsorganisationen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung haben ihre Büros nach Litauen verlegt, um der Bespitzelung des belarussischen Geheimdienstes KGB zu entfliehen.
Auch Aleinik hat eine NGO gegründet: Die „Zivile Demokratische Vertretung Belarus“ möchte zeigen, dass Alleinherrscher Lukaschenko nicht für sein Volk spricht, wenn er etwa EU-Kommissionspräsident Barroso als „Ziegenbock“ beschimpft. Die wichtigste Waffe des jungen Manns ist der Laptop: „Mithilfe des Internets, Skype und Netzwerken wie Facebook halten wir Kontakt mit Aktivisten in ganz Belarus. Wir planen gerade Protestaktionen auf den Straßen – und die Koordination läuft nur online.“
Dank Websites wie naviny.by wissen die Lukaschenko-Gegner, dass in der Heimat wiederholt Autofahrer gegen die Rationierung von Benzin protestieren und dass China dem verschuldeten Land einen Milliardenkredit gewährt hat. Doch es gibt noch wichtigere Quellen: Augenzeugenberichte aus Belarus. „Zum Glück können wir unsere Helfer nach Vilnius einladen. Von Minsk aus sind sie mit dem Auto in drei Stunden hier“, berichtet Aleinik.
Die Treffen finden meist im belarussischen Menschenrechtshaus statt, das von einer norwegischen Stiftung finanziert wird. Im Eingangsbereich weisen Schilder den Weg zum Computerraum im ersten Stock. Dort bekommen die Aktivisten in Seminaren Tipps, wie sie sich bei einer Verhaftung verhalten sollen und lernen, im Internet keine Spuren zu hinterlassen. Für die jungen Leute sind Gespräche mit Gleichgesinnten wie Anastasiya Matchenko besonders wichtig. Die 25-Jährige hat an der EHU studiert und arbeitet nun für die NGO Belaruswatch. „Fast alle Belarussen sind verzweifelt wegen der wirtschaftlichen Lage. Alle hamstern Lebensmittel, weil sie Angst haben, dass ihr Geld an Wert verliert. Meine Freundinnen kaufen Unmengen von Kosmetika.“
Die ökonomischen Probleme in Belarus, das nun viele Staatsbetriebe privatisieren muss, sieht sie selbst in Vilnius täglich: In den vergangenen Monaten haben Tausende Belarussen in Litauen gebrauchte Autos gekauft. „Am 1. Juli treten wir der Zollunion mit Russland und Kasachstan bei, wodurch die Einfuhrzölle für Autos steigen“, erklärt Matchenkos Kollege Vadim Vileita. Zugleich fahren reiche Belarussen mit ihren teuren Limousinen nach Vilnius, um sich in Shopping Malls zu amüsieren. „Die Hälfte unserer Kunden kommt aus Belarus“, verrät die Verkäuferin einer Nobelboutique.
Sie sei nicht wütend, wenn sie einen Mercedes aus Minsk sehe, meint Matchenko. Es motiviere sie vielmehr: Belaruswatch fordert die Abschaffung der Visagebühren. „Für die Mitglieder der Nomenklatura sind 60 Euro kein Problem, doch für normale Belarussen ist es viel Geld“, argumentiert sie. Stephan Malerius von der Adenauer-Stiftung verweist auf aktuelle Umfragen: „Erstmals seit 1991 wünschen sich über 50 Prozent der Belarussen eine enge Anbindung an die EU.“ Nur ein Drittel sehe Russland als bevorzugten Partner. Laut Malerius existiert ein direkter Zusammenhang: „Wer ein EU-Land besucht hat, der unterstützt eine Annäherung an Europa.“
Auch Juri Aleinik hofft, dass bald viele Belarussen in die EU reisen können. Er selbst ist jedoch überzeugt, in Minsk noch mehr für sein Land tun zu können: „Ich möchte so schnell wie möglich zurück. Die wirtschaftliche Situation ist so schlecht, dass es sich das Regime nicht leisten kann, Oppositionelle ins Gefängnis zu schicken.“