Griechenland

Griechen entdecken Demokratie neu

Zu Hunderten sitzen sie im Kreis auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament in Athen und demonstrieren. Ihre Hände ruhen auf den gekreuzten Beinen, sie blicken zum Sprecher vor ihnen. Es ist kurz nach 21 Uhr, der Mond taucht den Platz in milchiges Licht. Auf einem Plakat steht „Schluss mit der Apathie. Direkte Demokratie“. Gerade hat die Generalversammlung der „Empörten“ begonnen, einer Sozialbewegung, die sich – nach dem Vorbild der spanischen Indignados – für direkte Demokratie einsetzt. Die „Empörten“ protestieren gegen das harte Sparprogramm, das die griechische Regierung im Gegenzug für die Milliardenhilfen der Europäischen Union, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank umsetzen muss.

Seit Ende Mai versammeln sich täglich Hunderte von Menschen auf dem Platz, ihr Vorbild sind Spanier, die wegen der Wirtschaftskrise allabendlich die Puerta del Sol in Madrid besetzen. „Die Griechen sind aufgewacht“, steht auf ein  Plakat.  „Ich gehöre zu keiner Partei“, steht auf einem anderem. Hier auf diesem Platz, über den noch vor ein paar Wochen nur deprimierte Bürger liefen, entdecken das Mutterland der Demokratie die Volksherrschaft neu. Allabendlich verfolgen sie das gleiche Ritual: Zunächst protestieren sie vor dem Parlament, später geht es zur Volksversammlung, die oft bis tief in die Nacht reicht.



Der typisch griechische Fluch mit der nach außen gerichteten, offenen Handfläche wird tausendfach wiederholt. Immer wieder wird gerufen „Räuber, Räuber“, von Hausfrauen, Rentner, Studenten. / Salinia Stroux, n-ost


Die spontane Teilnahme von tausenden Bürgern alarmiert mittlerweile auch die Regierung. Diese merkt, dass der harte Sparkurs keine Zustimmung bei der Gesellschaft findet. Laut einer Umfrage des Meinungsinstituts VPRC sind nur 7 Prozent der Befragten zufrieden mit der Art und Weise, wie die Regierung mit der Krise umgeht. 86 Prozent glauben, dass das Land in die falsche Richtung steuert.

Alexandra, eine 47-jährige Privatangestellte, die um ihren Job fürchtet, grinst zufrieden: „Die Proteste hier ist mein Lebenselexier. Es ist unglaublich, wie Leute mit verschiedenen Ideologien und politischen Prägungen friedlich über Probleme reden, die uns alle betreffen “, sagt sie, während sie sich einen Platz in der sitzenden Menge sucht.

Auf dieser Versammlung hat jeder das Recht, zu sprechen. Der Redner wird ausgelost, jeder hat anderthalb Minuten Zeit. Die Themen, die besprochen werden, beschließt die Versammlung am Abend zuvor. Mehr als 18 Arbeitsgruppen widmen sich den Themen, u.a. eine Arbeitsgruppe für die Schulden, eine Arbeitsgruppe für juristische Angelegenheiten und eine Arbeitsgruppe für Kommunikation. Die Demonstranten fordern direkte Demokratie ein, ein würdevollen Leben in einem souveränen Staat und den Schutz der Arbeitsrechte. Viele fühlen sich von der Politik verraten und von den Forderungen der Gläubiger gesteuert.

Das Protokoll der Vollversammlung wird im Internet veröffentlicht. Abgestimmt wird mit Gesten, selten mit Applaus. Erhobene Hände stehen für Zustimmung, nach unten gerichtete Daumen bedeuten Ablehnung. Wenn ein Thema angesprochen wird, das bereits debattiert wurde, wird mit kreisenden Handbewegungen Wechsel signalisiert.

Ein junger Mann ergreift das Mikrophon: „Ich habe es satt, Angst zu haben! Wir müssen handeln. Wir müssen diese Regierung aus dem Parlament entfernen“, sagt er. Die Zuhörer klatschen begeistert. Unter ihnen sind Studenten, Rentner, Familienväter, Hausfrauen, Intellektuelle. Leonidas, ein 40-jähriger Grieche, ist gerade aus Madrid gekommen. Er war bei der Besetzung der Puerta del Sol, wo die Spanier gegen die hohe Arbeitslosigkeit, gegen die Macht der Banken und der großen Parteien protestierten. „Die Spanier haben ihre Forderungen formuliert und gehen jetzt einen Schritt weiter. Was machen wir? Wir reden nur. Wir müssen anfangen, zu handeln!“, sagt der Grieche.

Vor ein paar Tagen wurde in der Versammlung beschlossen, das Parlament am 15. Juni zu umzingeln, damit die Abgeordneten das Gebäude nicht betreten können. An diesem Tag soll nämlich über das „Mittelfristige Programm“ zur Sanierung des vor der Pleite stehenden Staates abgestimmt werden. Dieses Sparprogramm sieht rasche Privatisierungen vor. Am selben Tag wollen die Empörten auch den Konsum boykottieren und kein Produkt aus den Supermaktregalen zu kaufen um den Regierenden eine Botschaft zu senden.



Abgestimmt wird auf dem Syntagma-Platz meistens mit den Gesten, selten mit Applaus. / Salinia Stroux, n-ost

Am Dienstag hat die sozialdemokratische Partei PASOK heftige Kritik an dem eingeschlagenen Wirtschaftskurs geäußert. Für den Fall, dass er in die Tat umgesetzt werde, wurde sogar mit Rücktritten gedroht. 16 PASOK-Abgeordnete haben einen Protestbrief an Griechenlands Regierungschef Papandreou gerichtet. Er selbst erwägt die Möglichkeit eines Referendums, um den „größtmöglichen Konsens“ über die geplanten politischen und wirtschaftlichen Reformen zu erreichen.

Es ist kurz vor Mitternacht. Die Menschenmenge löst sich langsam auf. Alexandra stützt sich auf die Treppen des Syntagma-Platzes. Sie ist erschöpft, aber ihre Augen strahlen: „Ich habe Angst vor der Zukunft, aber auch Hoffnung, dass wir alle vereint etwas erreichen können.“


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