„Smolensk“ fast vergessen?
„Wie? Es ist schon ein Jahr her?“ Swetlana Jegorowa ist in sich versunken. Als krame sie in ihrer Erinnerung, als versuche sie, die Zeit wieder herzuholen, hier auf die belebte Twerskaja Straße mitten im Moskauer Zentrum. Vor einem Jahr stürzte die polnische Präsidentenmaschine im Wald bei Smolensk ab. 96 Männer und Frauen der polnischen Elite kamen ums Leben, darunter Präsident Lech Kaczynski und seine Frau Maria. Eine nationale Tragödie für die Polen.
Doch nach der gemeinsamen Trauer um die Toten und des darauf folgenden Tauwetters in den so eisigen Beziehungen zwischen Russland und Polen, überlässt Russland das Gedenken derzeit weitgehend den Politikern. Den Medien ist der Jahrestag lediglich die kurze Meldung wert, dass der Präsident Dmitri Medwedew zur Gedenkfeier fliegt. Immer noch gibt es Ungereimtheiten wegen des russischen Abschlussberichts zum Absturz, der die Schuld an dem Unglück vor allem den polnischen Piloten zuschreibt. Die Untersuchungen wurden nun bis Oktober dieses Jahres verlängert. Das Verhältnis scheint wieder festgefahren: Von der Katastrophe im Nebel über Smolensk spricht im Russland dieser Tage kaum jemand.
„Für eine feste Freundschaft zwischen Polen und Russen braucht es noch viele Schritte“, sagt der russische Historiker Andrej Sacharow. Der 80-Jährige, der den gleichen Namen wie der berühmte sowjetische Dissident trägt, ist Historiker und Direktor des Instituts für russische Geschichte an der Moskauer Akademie der Wissenschaften.
Andrej Sacharow, Direktor des Instituts für Geschichte an der Moskauer Akademie der Wissenschaften. Foto: privat/n-ost
Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem polnisch-russischen Verhältnis, von Gewalterfahrungen auf beiden Seiten belastet ist: dem polnisch-russischen Krieg 1919/20, den zunächst Polen für sich entschied, die „Revanche“ der Russen durch den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, die brutale Vertreibung und die Massenmorde von Katyn.
Dort hatten die Sowjets im Frühjahr 1940 auf Befehl Josef Stalins mehr als 20.000 polnische Offiziere, Geistliche und Intellektuelle erschossen. Ein Trauma im polnischen Gedächtnis. Als die Präsidenten-Maschine im vergangenen Jahr abstürzte, war sie auf dem Weg zu einer Gedenkfeier dieses Massakers.
Smolensk scheint der einzige Ort in Russland zu sein, in dem sich seit Monaten alles um das Gedenken dreht. „Die letzten zwei Wochen arbeiten wir rund um die Uhr. Damit die Menschen trauern können, damit dieses Unglück, das uns, Russen und Polen, vor einem Jahr wieder zusammenrücken hat lassen, nicht in Vergessenheit gerät“, sagt ein Mitarbeiter der Smolensker Administration. Am 9. April kommen die Angehörigen der Opfer, am 11. die Politiker. Sie wollen die Unglücksstelle besuchen und sie werden auch nach Katyn reisen.
Katyn ist ein Synonym für die Schrecken der russisch-polnischen Vergangenheit. Schrecken, die „nur mit der Zeit“ verschwinden könnten, sagt Sacharow. „Die Einstellung der Menschen lässt sich nicht von heute auf morgen ändern.“