Ein Topf voller Strahlen
Den Sommer 1986 haben wir – wie viele Urlaube – im Haus meiner Tante bei Dresden verbracht, umgeben von Wäldern, Weiden, einem kleinen Bach, und Unmengen von Pilzen. Das Pilze sammeln war dort ein festes Ritual, neben Champignons gab es Röhrlinge und Wiesenboviste, die beim Aufschneiden quietschten, und kulinarisch eher als Experiment zu werten waren.
Doch in diesem Sommer waren die Pilze tabu. Meine Mutter begründete das damit, dass ein großer Topf voller Strahlen plötzlich ein Loch bekommen habe. Die Strahlen seien ausgeströmt und säßen auf den Pilzen – eine angemessene Erklärung für eine Sechsjährige. Zwei Tage später habe ich allerdings im Wald einen zerlöcherten Kochtopf gefunden und Angst bekommen: Ich war sicher, den „Strahlentopf“ entdeckt zu haben. Erst Jahre später habe ich durch einen Zeitungsbericht den rostigen Kochtopf mit einem krebskranken Mädchen aus der Ukraine in Verbindung gebracht.
Dass ich mich nicht an mehr erinnere, hat nicht nur mit meiner Jugend zu tun: In der DDR wurde der GAU anfangs totgeschwiegen. Am 29.4.1986 meldete das Neue Deutschland: „Im KKW Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet.“ – fünf Sätze auf Seite fünf der Zeitung. Als sich der Unfall nicht mehr leugnen ließ, wurde in enger Absprache mit Moskau vertuscht: Die Strahlung habe sich „auf niedrigem Niveau stabilisiert“, andere Nachrichten seien eine Hetzkampagne aus dem Westen.
Es bestehe „keinerlei Gefahr“
Das Staatliche Amt für Atomsicherheit teilte am 8. Mai mit, für die Bevölkerung bestünde „keinerlei Gefahr“. Als der Salat auch in den Kaufhäusern liegen blieb, wurde er in Sachsen-Anhalt und anderswo in Schulen und Kindergärten verteilt. Meine Eltern haben eine Zeit lang mehr aus Konserven gelebt und sind an den sonst gerne gekauften Pfifferlingen polnischer Händler an der Autobahn vorbei gefahren. Sonst hat sich nichts geändert, was zum Teil an mangelnder Information lag, teilweise aber auch daran, dass es keine Erfahrungen mit einem solchen Fall gab. Meine Eltern wussten zu wenig, wir haben weiter draußen gespielt.
Dabei war die DDR-Bevölkerung auf den Ernstfall gedrillt worden. Im Fach Zivilverteidigung hatten meine Eltern als Kinder gelernt, dass man sich bei einem atomaren Angriff etwas über den Kopf zieht und hinter einem niedrigen Mäuerchen, notfalls einem Bordstein Schutz sucht. Zuvor sollte man die strahlenabweisende blaue Salbe auftragen und nach dem Angriff die verseuchte Kleidung sofort reinigen. Als Schüler hatten sie diesen sinnlosen Drill lächerlich gefunden, die Beruhigungstaktik wirkte trotzdem: „Solange nicht die blaue Salbe ausgeteilt wurde, konnte es ja nicht so schlimm sein“, meinte meine Mutter einmal. Viele Menschen in der DDR haben erst nach 1989 von dem GAU erfahren
Wenn ich jetzt sehe, wie zögerlich der japanische Betreiber die Situation in Fukushima kommunizierte, und wie beschworen wird, dass so etwas „bei uns“ nicht passieren könne, dass „unsere Kraftwerke“ sicher seien, zeigen sich für mich viele Parallelen. Bei mir nähren diese Verlautbarungen den Verdacht, dass alles wahrscheinlich noch viel schlimmer ist.