„Die kleinsten Völker errichten die größten Denkmäler“
ostpol: Herr Ugricic, die Leipziger Buchmesse rückt in diesem Jahr Ihr Heimatland Serbien in den Fokus. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?
Sreten Ugricic: Zunächst freue ich mich, dass Serbien nach all den schrecklichen Dingen in der jüngeren Vergangenheit wieder als Ort von Kultur und Literatur wahrgenommen wird. Ich hoffe, dass die interessierten Besucher auf der Messe einen noch unbekannten und daher sehr spannenden Kontinent auf der Landkarte der europäischen Literatur entdecken können. Natürlich verbinde ich damit auch die Hoffnung, dass so manches in Deutschland sorgsam gepflegte Klischee über uns Serben zurechtgerückt werden kann. Kein Serbe wird mit einem Messer zwischen den Zähnen geboren…
Sreten Ugricic, Direktor der Serbischen Nationalbibliothek und selbst Schriftsteller, stellt auf der Leipziger Buchmesse sein neuestes Buch „An den unbekannten Helden“ vor / Mirko Schwanitz, n-ost
Manche Stereotype, wie das eines ausgeprägten Nationalismus, bedienen die Serben aber auch selbst: Wir sitzen hier in der serbischen Nationalbibliothek und hören die Glocken der Hl. Sava Kirche, einer der größten orthodoxen Kirche der Welt…
Der 1961 in Jugoslawien geborene Romancier, Essayist, Konzeptkünstler und Philosoph Sreten Ugricic ist einer der wichtigsten, vor allem aber kritischsten serbischen Gegenwartsautoren. Er ist Mitglied des serbischen P.E.N. und Vize-Direktor des Auswahlkomitees der World Digital Library. Sein jüngstes Werk „An den unbekannten Helden“ ist 2011 im Berliner Dittrich-Verlag erschienen.
Ugricic: Dass sich die größte Kirche und größte Bibliothek gegenüberstehen, ist vielleicht wie ein Symbol für unser Land, in dem sich Reaktion und Fortschritt noch immer belauern – auf der einen Seite die in ihrer Weltsicht eher rückwärts gewandte Kirche, die nach wie vor von den Serben als himmlisches Volk spricht und einen große Mitverantwortung für die Ausprägung eines ungesunden Nationalismus trägt. Auf der anderen Seite steht die Bibliothek mit all den belletristischen und wissenschaftlichen Werken, die der Zukunft und demokratischen Werten zugewandt sind. Und einem Direktor, der als Schriftsteller klar Position gegen jede Form von Nationalismus und Diktatur bezieht…
Wozu braucht ein kleines Volk eine solch große Kirche?
Ugricic: Es ist doch immer so: Die kleinsten Völker errichten die größten Denkmäler. In der Regel sind diese Denkmäler Ausdruck tief sitzender Minderwertigkeitskomplexe. Oder anders gesagt, wenn wir schon sonst auf nichts stolz sein können, so doch immerhin darauf, das größte orthodoxe Gotteshaus der Welt zu haben.
Die Hl. Sava Kirche in Belgrad, eine der größten orthodoxen Kirchen der Welt, steht gegenüber der Serbischen Nationalbibliothek / Mirko Schwanitz, n-ost
„Den Serben kommt alles Mögliche in den Sinn, nur nicht, das eigene Verhältnis zur Wahrheit zu ändern.“ – Dieser Satz ist ein Zitat aus Ihrem neuesten Werk „An den unbekannten Helden“, das soeben auf Deutsch erschienen ist. Warum fällt es Serbien so schwer, die Mitschuld am Bosnien- und Kosovo-Krieg anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen?
Ugricic: Weil wir besiegt worden sind. Nicht unbedingt militärisch, aber moralisch. Wir haben uns selbst besiegt. Die Sieger, also die anderen Völker des ehemaligen Jugoslawiens, haben dieses Problem nicht. Das soll keine Entschuldigung sein. Im Gegenteil. Gerade weil unsere Niederlage so tief ist, haben wir die Pflicht, dieses Thema als das wichtigste in unserer Gesellschaft anzuerkennen und uns mit ihm auseinanderzusetzen.
Und? Setzt sich die serbische Gegenwartsliteratur damit auseinander?
Ugricic: Der Trend ist da. Auf der Leipziger Buchmesse werden die Besucher viele Autoren treffen, die darüber schreiben, wie Serbien zu dem wurde, was es heute ist: Ein Land, das im Krieg sein Gewissen verloren hat und das bis heute unter der Abwesenheit dieses Gewissens leidet – nicht nur auf staatlicher Ebene, auch in familiären oder zwischenmenschlichen Beziehungen. Aber insgesamt sind es immer noch zu wenige Schriftsteller, die die direkte Auseinandersetzung wagen.
Fordern die Leser dies nicht ein?
Ugricic: Man sollte nicht davon ausgehen, dass die Mehrheit der serbischen Leser eine solche direkte Beschäftigung mit dem Krieg wirklich interessiert. Literatur spielt in der serbischen Öffentlichkeit nicht wirklich eine Rolle. Man liest. Das ja. Aber die Auseinandersetzung mit der Literatur findet doch eher in einem kleinen, beschränkten Kreis statt.
Pünktlich zur Buchmesse erscheinen einige serbische Autoren wie Vladislav Bajac, Vladimir Pistalo oder auch der hervorragende Goran Petrovic, die das Thema Krieg in Ihren Werken zumindest umkreisen. Welche Bedeutung hat der Serbien-Schwerpunkt für die Literatur ihres Landes?
Ugricic: Ich hoffe, dass dort auch jene Autoren wahrgenommen werden, die noch nicht mit eigenen Titeln auf dem deutschsprachigen Buchmarkt vertreten sind. Und ich hoffe sehr, dass nicht nur über Schuld und Sühne gesprochen werden wird. Alle Autoren, auch serbischen Autoren muss zugestanden werden, dass sie ihre Geschichten erzählen wollen, egal ob sie mit der jüngsten Vergangenheit zu tun haben oder nicht. Die Auseinandersetzung damit kann kein alleiniges Kriterium sein, ob ein Buch aus Serbien gut ist oder nicht. Was Serbien selbst betrifft, so sollte man nicht erwarten, dass Literatur wirklich Einfluss auf politische Entwicklungen hat. Darin unterscheidet sich die serbische nicht von der deutschen Literatur.
Sreten: „An den unbekannten Helden“, Berlin 2011, 17,80 Euro. ISBN: 978-3-937717-66-1.