Immer mehr Obdachlose aus Polen
Die Notübernachtung der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße öffnet um 21 Uhr. Viele Obdachlose drängeln sich dann schon an den Türen. Denn wer rechtzeitig kommt, hat bessere Chancen, einen guten Platz zu bekommen. In den Räumen sind alle Sprachen zu hören, vor allem aber Polnisch.
Einer der „Stammgäste“ ist der 40-jährige Przemek aus Nowa Sól bei Zielona Góra (Neusalz an der Oder bei Grünberg). Der mittelgroße Mann mit dunklen Haaren fällt eigentlich nicht auf. Er sitzt ruhig am Tisch und isst Suppe. Erst wenn Przemek anfängt zu sprechen, merkt man, wie nervös er ist. Er stottert und trommelt mit den Fingern. An der rechten Hand fehlt ihm ein Zeigefinger – Folge eines Unfalls, von dem Przemek nicht erzählen will. „Eigentlich bin ich wegen der Arbeit nach Deutschland gekommen“, sagt er. „Aber es hat nicht geklappt. Jetzt arbeite ich auf einer Baustelle. Natürlich schwarz.“
Przemek erzählt, er sei von einem Arbeitsvermittler betrogen worden. Dann lernte er ein paar Kumpels kennen, mit denen er jetzt jobbt und seine Freizeit verbringt. Er verdient zwischen 100 und 150 Euro pro Woche. Piotr, ein 25-jähriger Pole, arbeitet ebenfalls auf dem Bau und bekommt noch weniger – 60 Euro wöchentlich. Ohne offizielle Arbeit, Deutschkenntnisse und feste Anmeldung habe er keine Chance auf einen würdigen Lohn, geschweige denn auf einen festen Wohnsitz.
Bundesweit gibt es immer mehr Osteuropäer mit einer solchen Biographie. Die meisten emigrieren aus ihren Heimatländern, weil sie sich in Deutschland ein besseres Leben erhoffen. „Wir hatten schon in den letzten drei bis vier Jahren gut 40 Prozent Obdachlose, die nicht aus Deutschland kommen. Aber in diesem Winter sind zum ersten Mal 70 Prozent der Ausländer aus Osteuropa. Die meisten stammen aus Polen“, sagt Sozialpädagogin Karen Holzinger, die seit 15 Jahren bei der Kältehilfe der Berliner Stadtmission tätig ist. „Die Zahl ist extrem gestiegen.“
Doch obwohl ihnen oft nichts anderes übrig bleibt, als auf der Straße zu leben, wollen die meisten Obdachlosen nicht in die Heimat zurückkehren. „Natürlich könnte ich nach Polen zurück, aber wozu? Wegen 400 Zloty (etwa 100 Euro) Sozialhilfe monatlich?“, fragt sich Przemek. „Nein, das will ich nicht. Ich weiß, dass es hier schlecht ist, aber ich habe keine Idee, was ich mit meinem Leben weiter machen soll.“
Viele Obdachlose sind seit Jahren alkoholkrank. Dazu kommt die Scham, gescheitert nach Hause zurückzukehren. „Ohne Perspektive in Deutschland zu leben ist für viele immer noch angenehmer, als ohne Zukunft in Polen zu sein“, erklärt Holzinger. „Das, was bei uns als Notversorgung gilt, ist für viele Menschen aus Osteuropa schon fast Luxus.“
Die steigende Zahl der polnischen Obdachlosen in Deutschland entsetzt Stanisław Szczerba, der vor drei Monaten seine Arbeit als „Streetworker“ in Hamburg begonnen hat. Der 53-jährige Pole hat schon viel gesehen. Vor mehreren Jahren war er in Polen selbst obdachlos. Seit seiner Rückkehr ins normale Leben hilft er anderen Menschen in Notlagen. Zuletzt arbeitete er eineinhalb Jahre mit polnischen Wohnungslosen in London. „Bevor ich nach Hamburg kam, dachte ich, dass die Deutschen in Panik geraten sind, weil sie vielleicht ein paar polnische Obdachlose auf der Straße gesehen haben“, sagt Szczerba. „Die Situation hier hat mich aber total entsetzt. Alleine in Hamburg gibt es mehrere hundert Obdachlose aus Polen. Und ich bin sicher, dass ihre Zahl nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Osteuropäer am 1. Mai noch steigen wird.“
Szczerba zog nach Deutschland auf Initiative des polnischen Generalkonsuls und der Hamburger Stadtmission. Die Mitarbeiter der deutschen Einrichtungen sprechen meistens kein Polnisch. Deswegen fällt es ihnen schwer, Vertrauen unter den Hilfsbedürftigen zu gewinnen. Das gleiche Problem hat die Berliner Stadtmission, die dringend nach polnischsprachigen Helfern sucht. Gerade wurde hier ein Informationsflyer ins Polnische übersetzt. Er soll überall dort verteilt werden, wo sich viele Obdachlose aufhalten.
Man kann allerdings nicht allen helfen. Seit einigen Tagen hängt in der Notübernachtung der Berliner Stadtmission ein Nachruf. Vor kurzem ist hier ein junger Pole gestorben. Seine Kumpel sagen, er sei alkoholkrank gewesen. Er war knapp 31 Jahre alt. „90 Prozent werden hier so enden“, meint der 22-jährige Radek, der seit drei Monaten zur Notübernachtung kommt. „Wegen Alkohol. Sie leben nur dafür. Viele sind aus Polen wegen Gerichtsurteilen geflohen und sind nach Deutschland gekommen, um hier ein besseres Leben zu finden. Und haben das hier gefunden: Die Notübernachtung für Obdachlose.“