Russland

Pulverfass Kaukasus

Von Anfang an hatte Moskau vermutet, dass hinter dem Anschlag auf den Flughafen Domodedowo vor gut zwei Wochen Terroristen aus dem Kaukasus stecken könnten. Der tschetschenische Rebellenführer Doku Umarow war schon direkt nach der Tat von den russischen Ermittlern als Verdächtiger genannt worden. Mit dem Anschlag selbst hatte Umarow nach russischen Medienberichten Terroristen aus der Kaukasus-Republik Inguschetien beauftragt. Der 46-jährige bezeicnete die Tat als Vergeltung für die "russischen Verbrechen im Kaukasus".

Doku Umarow, der sich selbst 2007 zum Führer des „Islamischen Kaukasus-Emirats“ ausgerufen hat, prahlt damit, über 30.000 Kämpfer zu verfügen. Er proklamierte einen „Heiligen Krieg“ gegen russische Behörden. Er hatte sich bereits im März vergangenen Jahres zu dem Blutbad mit 40 Toten in der Moskauer Metro bekannt. Als sich die zwei „Schwarze Witwen“, Frauen getöteter Rebellen im morgendlichen Berufsverkehr in der Metro in die Luft sprengten, erklärte die russische Öffentlichkeit die Kaukasus-Strategie des Kreml für gescheitert.

Die Republiken im Kaukasus kämpfen seit den 1990er Jahren um ihre Unabhängigkeit von Russland. Nach den zwei Tschetschenienkriegen tragen Attentäter den Konflikt immer wieder in das russische Kernland. 2002 gab es eine Geiselnahme durch tschetschenische Rebellen in einem Moskauer Musical-Theater, bei der 129 Geiseln starben.

In den Kaukasus-Republiken selbst herrschen kriegsähnliche Zustände: Im Oktober 2010 etwa stürmten tschetschenische Rebellen das Parlament in Grosny, zwei von ihnen sprengten sich in die Luft und rissen mehrere Umstehende mit in den Tod. Im November 2010 starben bei einem Gefecht in der Stadt Nasran in der Republik Inguschetien ein Mitarbeiter des Innenministeriums und ein Untergrundkämpfer. Eine Woche später töteten Polizisten in der Nachbarregion Dagestan zwei Menschen, darunter einen ehemaligen Imam.

Moskaus Führung konnte das Blutvergießen bislang nicht stoppen - trotz verschiedener Versuche, die Taktik zu ändern. So wurde mit Alexander Chloponin ein ausgewiesener Wirtschaftsexperte zum Sonderbevollmächtigten für den Nordkaukasus ernannt, doch auch er kann gegen die unübersichtlichen Machtstrukturen der Clans nicht viel ausrichten. Immer noch ist in Inguschetien jeder Zweite arbeitslos. Auch ein Führungsstreit unter tschetschenischen Extremisten hat die Region nicht befriedet.

Im Oktober vergangenen Jahres kam es endgültig zum Bruch zwischen Doku Umarow, der sich selbst „Emir vom Kaukasus“ nennt, und einem Teil seiner Anhänger. Kommandeure weigerten sich, den Eid auf Umarow abzulegen Zu viele tote Zivilisten und zu wenig Interesse für die wirklichen Probleme der Tschetschenen, warfen Rebellen dem „Emir“ vor. Sie wählten Hussein Gakajew zum neuen Führer. Wie viel Einfluss Umarow geblieben ist und welche Ziele Gakajew genau verfolgt, ist bislang weitgehend unbekannt.
Unter dem Druck, den der kremltreue Präsident Ramsan Kadyrow in Tschetschenien aufgebaut hat, hat sich die Lage zwar etwas beruhigt, dennoch bleibt die Region ein Pulverfass. Offiziell gilt in Tschetschenien die russische Rechtsordnung. Doch der Großteil der Bevölkerung überlegt eher, ob er dem Adat, der traditionell tschetschenischen Rechtsordnung, oder der Scharia, der islamischen, den Vorzug geben soll.

In Moskau haben die Menschen die Geduld mit den „Brudervölkern“ aus dem Süden längst verloren – wenn sie sie überhaupt je hatten. Kaum ein Hauptstadtbewohner kennt die Lebenswirklichkeit im Nordkaukasus. Die Wanderarbeiter aus dem Süden, die scharenweise nach Moskau strömen, werden oft als „Krummnasen“ oder „Schwarzärsche“ bezeichnet. Viele Russen wissen nicht, dass manch studierte Frau aus Grosny die Suche nach Arbeit frustriert aufgibt - sie werden abgelehnt, weil sie ein Kopftuch tragen. Es war kein Zufall, dass Mitte Dezember 2010 hunderte russische Nationalisten durch Moskaus Straßen zogen und „Russland den Russen“ skandierten. Die Miliz löste Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Kaukasiern unter Einsatz ihrer Knüppel auf.

Vor beinahe zwei Jahren wurde der Status Tschetscheniens als „Gebiet der antiterroristischen Operation“ aufgehoben. Grosny, in zwei Kriegen von russischen Streitkräften zu Ruinen zerbombt, ist wieder auferstanden. Dafür stehen die Glasfassaden des Wolkenkratzerviertels, zwei 3D-Kinos und das Banner mit der Aufschrift „Grosny – Hauptstadt der Welt“. Doch vor dem Tiefkühlregal im Supermarkt tragen Männer in Zivil Maschinenpistolen spazieren. Halbwüchsige stapfen im Gleichschritt durch die Stadt, als würden sie eine Lederjacke und ein finsterer Gesichtsausdruck vor der Welt schützen. Abends im Restaurant vergleicht ein einheimischer Geschäftsmann flüsternd den von Russland protegierten Präsidenten Ramsan Kadyrow mit Josef Stalin und will dann eigentlich schon wieder gar nichts gesagt haben.


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