Das neue Schtetl
„Jüdisches Zentrum, Diordiza Straße“, brummt der Taxifahrer in sein Funkgerät und startet den Wagen. Der alte VW zieht kurz an, dann stottert er und schließlich macht er keinen Mucks mehr. Leise rollt er den Berg hinunter. Unten angekommen springt er doch noch an, und damit er wieder ins Laufen kommt, drückt der Fahrer aufs Gas. Der Wagen brettert durch das marode Stadtzentrum der moldauischen Hauptstadt Chisinau. Er hält in einer Seitenstraße zwischen zwei Gebäuden, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Der Bau rechts strahlt weiß wie Marmor, davor patrouillieren Polizisten. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, steht ein grauer Wohnblock. „Dann ist das Jüdische Zentrum wohl dort.“ Der Fahrer deutet auf ein Schild „Jüdische Bibliothek ‚Itzik Manger’“.
Die Bibliothek liegt in der Ladenzeile des Blocks. Olga Sivac sitzt in ihrem Büro am Schreibtisch. Die 50-Jährige winkt ab. „Wir sind das jüdische Kulturzentrum. Das jüdische Zentrum, das Sie suchen, ist gegenüber. Dort, wo die Uniformierten stehen.“ Dann nimmt sie ein paar Bücher und geht auf den Flur.
Das jüdische Heimatmuseum im Keller der ehemaligen Holzsynagoge: Museumsleiterin Irina Schichowa vermittelt jüdische Kultur in mittelalterlicher Kleidung. / Dagmar Gester, n-ost
Olga Sivac, eine energische Frau mit kurzen Haaren, leitet die Fremdsprachenabteilung der jüdischen Bibliothek. Sie hat lange in Israel gelebt, ist aber vor ein paar Jahren nach Chisinau zurückgekehrt. Als sie die Tür zu ihrem bescheidenen Büro abschließt, erklärt sie, warum es in der Straße gleich zwei jüdische Zentren gibt. „Der alte Wohnblock hier ist das jüdische Kulturzentrum. Bei uns gibt es nicht nur Bücher, sondern auch ein Theater und ein Museum“, sagt sie. All das werde seit zwanzig Jahren von der Stadt bezahlt. Das strahlend weiße Gebäude gegenüber sei der jüdische Campus mit dem Namen „Kedem“, mancher nenne es das „Jüdische Zentrum“. Das werde durch Spenden aus den USA und Kanada finanziert. Campus und Bibliothek hätten aber nur wenig miteinander zu tun. Zu den Gründen will Olga nichts sagen. In der Gemeinde erzählt man sich, dass die amerikanischen Geldgeber unabhängig vom moldausichen Staat sein wollen. Mit der Folge, dass es in der Diordiza-Straße alles doppelt gibt: Zwei Computerclubs, zwei Museen, zwei verschiedene Organisatoren von Kinder - und Jugendprogrammen.
Feierlichkeiten im Innenhof des jüdischen Campus mit einer Darbietung moldauisch-rumänischer Folklore. / Dagmar Gester, n-ost
Nur eins unterscheidet die beiden Einrichtungen: Die eine hat Geld, die andere hat keins. In den Räumen des Jüdischen Kulturzentrum riecht es mitunter faulig, an der Decke kleben Wasserflecken. „Wir haben Probleme mit den Übermietern“ sagt Olga Sivac. Der „Jüdische Campus“ gegenüber dagegen wurde für mehrere Millionen Dollar auf den Resten einer alten Synagoge errichtet und 2005 wiedereröffnet. Amerikanische Sponsoren finanzierten den Bau, damit nicht noch mehr Juden aus dem kleinen Land zwischen Rumänien und der Ukraine auswandern. Derzeit leben rund 25.000 in der Republik Moldau, und es werden immer weniger. Das Land ist das ärmste Europas. Der Durchschnittslohn beträgt magere 86 Euro, viele Moldauer verdienen ihr Geld im Ausland.
In der jiddischen Abteilung der Bibliothek sitzt eine alte Frau. Die 82-jährige Sarah Shpitalnik-Molchanskaya kommt jede Woche vorbei und kümmert sich um die Bücher. Sie ist eine von drei Menschen in der Stadt, die noch Jiddisch sprechen. Sie und Olga Sivac kennen einen weiteren Grund, warum moldauische Juden auswandern wollen. Sie zeigt auf die Metallgitter vor den Schaufenstern und dem Eingang der Bibliothek. Vor einigen Monaten sei die nahe gelegene Synagoge mit Hakenkreuzen und SS-Runen besprüht worden, erzählt sie. „Einige Juden kamen aus Angst zu uns in die Bibliothek gerannt und wir haben uns hier eingeschlossen“, erzählt sie. Zuvor hatten christlich-orthodoxe Demonstranten einen großen Chanukka-Leuchter, ein Symbol des Judentums, aus dem Stadtzentrum entfernt.
Vorschulunterricht in der Itzik Manger Bibliothek, unter anderem mit Sprachunterricht in Rumänisch, Russisch, Englisch und Hebräisch. / Dagmar Gester, n-ost
Bei vielen Juden riefen die Anfeindungen alte Ängste wach. Denn Chisinau war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Schauplatz von Judenverfolgungen und den wohl schlimmsten Ausschreitungen gegen europäische Juden bis zum Beginn ihrer systematischen Verfolgung im Nationalsozialismus. Chisinau war ein Zentrum des jüdischen Lebens gewesen: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es 77 Synagogen, fast 80.000 Juden lebten in der Stadt. Doch dann ereignete sich 1903 ein schwerer Pogrom, bei dem 49 Juden getötet und über 500 verletzt wurden. In der Folge verließen viele Juden Chisinau und wanderten in die USA und nach Palästina aus.
Auf der gelben Fassade der heutigen Synagoge sind die Hakenkreuze und SS-Runen aus dem vergangenen Jahr nicht mehr sichtbar, der zweigeschossige Bau ist frisch gestrichen. Im Erdgeschoss sitzt der Rabbiner von Chisinau und Moldau, Rabbi Zalman Abelsky. Als Rab Zalman, wie sie ihn hier nennen, nach den Schmierereien gefragt wird, winkt er ab. „In Moldau gibt es keinen Antisemitismus. So etwas habe ich in all den Jahren, die ich hier bin, noch nicht erlebt“, sagt er.
Rab Zalman lebte schon zu Sowjetzeiten in Chisinau. Seine Synagoge war damals die einzige in der gesamten Sowjetunion, die nicht geschlossen worden war. „Aber das war nur eine Attrappe. In der Synagoge gab es kein wirkliches jüdisches Leben“, sagt er. Er selbst sei damals in einer von mehreren Studentengruppen gewesen, die sich heimlich in verschiedenen Kellern der Stadt trafen. Ziel sei es gewesen zu verhindern, dass das religiöse Leben stirbt. Erst vor zwanzig Jahren mit der Unabhängigkeit des kleinen Landes, wurde die Synagoge wieder offiziell eröffnet. Mit dem Ende des Kommunismus begann das jüdische Leben in Chisinau wieder. Rund 18.000 Juden leben heute in der Stadt. Es gibt zwei Synagogen, zwei jüdische Zentren, eigene Schulen, einen Kindergarten und sogar eigene Fernseh- und Radioprogramme.
Rabbi Zalman Abelsky leitet die einzige Synagoge, die zu kommunistischen Zeiten nicht geschlossen wurde. / Dagmar Gester, n-ost
Und es gibt organisierte Fahrten zu den wenigen erhaltenen jüdischen Zeugnissen im Land. Rund vierzig jüdische Jugendliche fahren mit dem Bus nach Leova, einer Kleinstadt rund einhundert Kilometer südlich von Chisinau. Die Jugendlichen wollen zum jüdischen Friedhof. Beim Busfahrer steht der Organisator der Fahrt, Kolja Railean, und telefoniert. Er versucht, einen Sicherheitsdienst zu organisieren, weil er antisemitische Übergriffe befürchtet. Doch als der Bus sein Ziel erreicht, ist die Gegend wie ausgestorben. Der Himmel ist grau, und es nieselt. Ein paar Jungen gehen zu den Gräbern und schneiden sich mit einer Heckenschere durch mannshohes Gestrüpp.
Ganz vorn läuft Ohad Sternberg. Der Amerikaner arbeitet als Freiwilliger für das amerikanische Friedenscorp. Der Endzwanziger erzählt, dass die Jugendlichen zum „Jüdischen Campus“, dem von den Amerikanern finanzierten jüdischen Zentrum, gehören. Sie wollen den Friedhof in Ordnung bringen. Plötzlich bleibt Ohad stehen und schaut auf die Erde, vor ihm liegt ein Grabstein. Die Jungen reißen das Gras weg, raspeln den Dreck fort und Ohad, selbst Jude, liest den hebräischen Text vor: „Hier liegt ein Paar, das von Dieben ermordet wurde, als die beiden noch jung waren.“ Zu siebt stemmen sie den Stein zurück auf den Sockel.
Am späten Nachmittag hält der Bus mit den Jugendlichen wieder in Chisinau. Vor dem strahlendweißen Jüdischen Zentrum patrouillieren noch immer die Uniformierten. Ohad, der Freiwillige, erzählt, dass es dort außer dem Jugendclub auch noch andere Projekte gibt. Vor allem gemeinnützige Programme. So bekämen rund zweitausend ältere Menschen Geld, um Lebensmittel einkaufen zu können. Dann verabschiedet er die Jugendlichen. Zwei von ihnen gehen zum Abendgebet in die Synagoge, rund dreißig Gläubige warten dort auf sie. Außer ein paar amerikanischen Gaststudenten sind hier alle über 60 Jahre alt. Nur ein kleiner, achtjähriger Junge sticht aus der grauhaarigen Gemeinde heraus. Nach dem Abendgebet schlittert und rutscht er über das Parkett, seinem Vater hinterher. Die Zukunft der Chisinauer Juden liegt auf schmalen Schultern.