Polen

Durchs Fenster ins Abteil: Bahn-Chaos in Polen

Auf der Rückreise nach Neujahr wurde es den Passagieren zu viel. Stunden hatten sie dicht gedrängt auf dem Bahnsteig in Krakau gewartet. Als endlich ein viel zu kurzer Zug einfuhr, versuchten sie, auch durch die Fenster in ihre Abteile zu gelangen. Weil sich die Türen wegen der Menschenmassen nicht schließen ließen, stoppten die überforderten Schaffner die Abfahrt – sie selbst passten ohnehin nicht mehr in die Waggons.

Szenen wie diese gehören auf polnischen Bahnhöfen fast zur Tagesordnung. Anders als in Deutschland bereiten hier jedoch weniger Schnee und Eis Probleme. An Verspätungen sind die meisten Reisenden gewöhnt: Abgenutzte Gleise, Waggons mit zugigen Acht-Personen-Abteilen, lange Schlangen vor den Fahrkartenschaltern und unfreundliche Schaffner machen den schlechten Ruf der polnischen Eisenbahn aus.

Doch mit dem Fahrplanwechsel Mitte Dezember hat es die polnische Bahn PKP auf die Spitze getrieben. Die Fahrpläne kündigen Verbindungen an, die es nicht gibt. Andere Züge dagegen fahren, ohne dass sie vorher angekündigt waren. Passagiere werden zu Gleisen geschickt, die noch nicht oder nicht mehr existieren. Die Anzeigen auf den Bahnhöfen und das elektronische Informationssystem, das auch eine Internet-Reiseauskunft umfasst, funktionieren nicht mehr.

Schuld an dem Chaos ist ein groß angelegtes Modernisierungs- und Privatisierungsprogramm, das die polnische Bahn PKP eigentlich effizienter machen soll. Die einstige Staatsbahn wurde unter dem Dach einer Aktiengesellschaft in mehrere Unternehmen aufgespalten. Private Eisenbahngesellschaften konkurrieren nun mit der PKP, allerdings sind die unterschiedlichen Fahrpläne noch nicht aufeinander abgestimmt. Auf einigen Hauptstrecken wie auf der beliebten Verbindung Warschau-Krakau tragen die Konkurrenten zudem einen Preiskampf aus. Die neue Billiglinie TLK („Twoje Linie Kolejowe“ – „Deine Eisenbahn") verkauft ihre billigen Fahrkarten ohne Platzreservierung und in unbegrenzter Zahl. In Warschau blockierten auf dem Bahnsteig zurückgebliebene Passagiere deshalb die Ausfahrt und forderten zusätzliche Waggons.

Erschwerend kommt hinzu, dass zur Zeit 38 Bahnhöfe in Vorbereitung auf die Fußball-Europameisterschaft im Jahr 2012 in Polen umgebaut werden, darunter die Hauptbahnhöfe in Warschau, Kattowitz, Breslau und Krakau. Besonders dramatisch ist die Situation am Warschauer Ostbahnhof und in Kattowitz, wo die Haupthallen abgerissen oder komplett gesperrt wurden. Touristen irren hilflos auf der Suche nach Fahrkartenschaltern oder dem richtigen Gleis auf den Bahnhöfen umher. Wegweiser gibt es kaum, Ansagen erfolgen nur auf Polnisch. Wer nicht mit Einheimischen unterwegs ist, hat kaum eine Chance, sein Ziel zu erreichen.

Mittlerweile hat die Regierung das Bahnproblem zur Chefsache erklärt. Premierminister Donald Tusk versprach im polnischen Fernsehen, bis zum Frühjahr das Eisenbahnwesen umzustrukturieren. Er entließ den Vizeminister für Infrastruktur, und die oppositionelle Partei SLD (Sozialdemokraten) stellte einen Misstrauensantrag gegen den zuständigen Minister Cezary Grabarczyk, über den am nächsten Mittwoch (12.1.) im Sejm, dem polnischen Parlament, abgestimmt wird. Erwartet wird eine hitzige Debatte: Zum Thema polnische Eisenbahn kann auch fast jeder Abgeordnete unzählige Leidensgeschichten beitragen


Weitere Artikel