Chodorkowski verurteilt
„Schuldig“, sagt Richter Viktor Danilkin im Moskauer Chamowniki-Gericht, „die Angeklagten haben den Öldiebstahl begangen“. Er beginnt, das Urteil gegen den einstigen Öl-Magnaten Michail Chodorkowski und seinen früheren Geschäftspartner Platon Lebedew zu verlesen. Es ist das Ende eines Prozesses, zu dem die Weltöffentlichkeit über Monate in die russische Hauptstadt blickte – und von dem sie an diesem kalten Moskauer Morgen ausgeschlossen bleibt. Die meisten Journalisten müssen draußen warten, auch zahlreiche Prozessbeobachter kommen nicht in den Gerichtssaal hinein. Entlang der Straße stellen sich Demonstranten auf, skandieren „Russland ohne Putin“ und halten ihre Plakate hoch. „Freiheit für Chodorkowski“ steht darauf oder: „Wir können alle zu einem Chodorkowski werden“.
Auch Walentina Iwanowna hat sich in die Menge gequetscht. Mit weit aufgerissenen Augen steht sie da und hält sich den Mund mit einem dunkelroten Handschuh zu. Tränen fließen ihr über die Wangen. Vor ihr laufen Spezialeinheiten der Miliz in Stahlhelmen und mit Schlagstöcken auf, werfen Menschen zu Boden, führen sie ab. Walentina Iwanowna sagt nichts. Sie schreit nicht wie die anderen, beschimpft die Milizionäre nicht als „hässliche Fratzen der Macht“. Sie weint, ganz still, weint Tränen der Ohnmacht. Sie sei fassungslos über die Willkür des Staates, sagt die 47-Jährige: „Die Menschen sind doch alle ganz friedlich hier.“ Die Miliz aber reißt ihnen die Plakate aus den Händen, umkreist sie, schleift sie über den nassen Asphalt. Junge, Alte, Menschen mit Fotoapparaten und mit Krücken. 20 Menschen habe sie festgenommen, wird die Polizei später sagen.
Im Saal Nummer 7 liest der Richter derweil seine Begründung vor. „Sehr schnell, drei DIN A 4-Seiten in einer Minute“, rechnet die Journalistin der regierungskritischen russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“ in einer Mitteilung an ihre Kollegen vor. Bis das Gericht das Strafmaß verkündet, können noch einige Tage vergehen. Wie viele, weiß nur der Richter. Einige Prozessbeobachter rechnen noch in dieser Woche damit, andere erst nach den russischen Winterferien Mitte Januar.
Chodorkowski und Lebedew verbüßen bereits eine Haftstrafe von acht Jahren – wegen Steuerhinterziehung und Betrugs. Im kommenden Jahr wäre diese Strafe zu Ende. Der jetzige Schuldspruch verhindert die Freilassung. Der Richter sagt, er sei davon überzeugt, dass Chodorkowski und Lebedew das gesamte Öl, das der mittlerweile zerschlagene Konzern Yukos zwischen 1998 und 2003 produzierte, gestohlen und den Erlös gewaschen hätten. Es geht dabei um 218 Millionen Tonnen Öl und 20 Milliarden Euro.
„Der Prozess war eine juristische Farce, die Anklagepunkte waren unwahr, ich fürchte jedoch, dass die Verurteilung bitterer Ernst ist“, sagt Wadim Kljuwgant, einer der Verteidiger, in einer Pause. Er will in Revision gehen. Premier Wladimir Putin hatte das Yukos-Tandem bereits vor einigen Tagen in einer TV-Show schuldig gesprochen. „Ein Dieb gehört ins Gefängnis“, sagte er. Nun ist auch das letzte Wort des Richters gefallen.
Inna Hartwich
ENDE
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