Prozess ohne Beweise
Er ist Russlands berühmtester Häftling. Michail Chodorkowski, einst Oligarch und Gründer des zerschlagenen Ölunternehmens Yukos, sitzt seit sieben Jahren im Gefängnis. Am kommenden Montag (27. Dezember) könnten weitere dazu kommen: vielleicht zwei, vielleicht fünf, womöglich auch mehr. Die Staatsanwaltschaft fordert 14 Jahre. Betrug, Unterschlagung und Geldwäsche lauten die Vorwürfe.
Es ist ein Prozess, der vielen westlichen und einigen russischen Beobachtern als Test für die Demokratie gilt. Ein Prozess ohne Beweise und ohne Geschädigte, dafür mit einer konstruierten Anklage. Das Urteil, vermuten Beobachter, haben die Juristen an der Staatsspitze bereits gesprochen. „Ein Dieb gehört ins Gefängnis. Die Verbrechen hat das Gericht bewiesen“, sagte Premierminister Wladimir Putin in einer TV-Show nach der überraschend verschobenen Urteilsverkündung Mitte Dezember.
Am 25. Oktober 2003 zerrte ein Spezialkommando der Polizei Chodorkowski aus seinem Privatjet im sibirischen Nowosibirsk, die Büros seines Konzerns wurden durchsucht. Michail Chodorkowski war da 40 Jahre alt und reichster Mann des Landes. Der smarte Emporkömmling aus Moskau fiel tief, und die Zeitrechnung des modernen Russland teilte sich – in ein Land vor der Verhaftung und ein Land nach der Verhaftung des Ölmagnaten. Chodorkowski verhedderte sich im Geflecht der Mächtigen. Er verlor.
Jahrelang hatte er mitgemacht im Spiel der kapitalistischen Raubritter der Jelzin-Zeit, hatte die Privatisierungswelle nach dem Zerfall der Sowjetunion für die eigenen Zwecke auszunutzen gewusst, sich auf zweifelhafte Art bereichert. Wie Roman Abramowitsch, wie Boris Beresowki, wie Oleg Deripaska – wie alle russischen Oligarchen. Bis im Jahr 2000 Wladimir Putin an die Macht kommt und die informelle Absprache gilt: Es gibt keine Untersuchungen zu den dubiosen Verkäufen von Staatseigentum an die Oligarchen, solange sich die Wirtschaftsbosse aus der Politik zurückhalten. Die einen fliehen ins Ausland, die anderen halten den Mund. Chodorkowski aber kritisiert. Mischt sich ein, prangert offen die Willkür im Land an.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Chemiker, der als Jugendlicher in die Rüstungsindustrie strebte, als Jude aber nicht zum Bereich der Hochsicherheitsjobs zugelassen werden durfte, bereits ein geläuterter Unternehmer. Einer, der seinen Ölkonzern auf internationale Standards der Buchhaltung und Unternehmensführung getrimmt hat, der mit seinem Geld die politische Opposition im Land stärkt, der Computerkurse für Kinder spendiert, Waisenhäuser unterhält.
Der Aufstieg des früheren Lieblings der Investmentbanker und der heutigen Symbolfigur für die Intrigenspiele des Kreml verläuft in drei Phasen. Während seines Chemiestudiums vernetzt sich Chodorkowski stark im „Komsomol“, dem Jugendverband der Kommunistischen Partei. Die Organisation handelt bereits Ende der 80er Jahre mit Computern und Cognac. Ohne Beziehungen zum Geheimdienst funktioniert das nicht. Chodorkowski pflegt Kontakte zu Beamten in Schlüsselpositionen und gründet 1989, als Millionen Rubel der Partei in die Wirtschaft fließen, seine erste Bank. Menatep wird eine der erfolgreichsten Privatbanken Russlands in den 90er Jahren.
1995 beginnt eine Traumkarriere: Menatep kauft die Mehrheit der zweitgrößten russischen Ölfirma Yukos. „Chodor“, wie ihn seine Freunde nennen, baut den Betrieb zu einem Imperium mit 100.000 Mitarbeitern auf, lässt ganze Städte von seinen Petrodollars leben. 2002 verzeichnet Yukos eine Produktionssteigerung von knapp 20 Prozent. Chodorkowski legt die Anteilseigner offen, will US-Firmen wie Chevron und Exxon an seinem Konzern beteiligen, kündigt eine Fusion mit dem Konkurrenten Sibneft an. Da ist er längst zehnfacher Dollarmilliardär. Ein Superreicher, der sich nach der Phase der Geldgier zum Wohltäter der bürgerlichen Gesellschaft gewandelt hat – und der vehement in die Politik strebt. Ein Vergehen in den Augen Putins: Chodorkowski war zu selbstständig geworden.
Die „Macht“ lässt ihre „Organe“ – die Sprache des Kalten Krieges verschafft sich wieder Raum im Land – handeln. Chodorkowski landet im Gefängnis, muss sich vor Gericht verantworten, Platz nehmen auf der Anklagebank in einem gläsernen Käfig des Gerichtssaals. „Ich will kein politischer Emigrant sein“, gibt sich Chodorkowski stark, als andere Oligarchen das Land verlassen. Nun ist er ein politischer Häftling – in einem Machtkampf zwischen dem liberalen Lager und den Hardlinern. Zwischen den Gefolgsleuten des Präsidenten Dmitri Medwedew und denen seines Ziehvaters, des heutigen Premiers Putin. „Wenn der zweite Prozess so endet wie der erste, sind alle guten Absichten diskreditiert. Dann wird Medwedew von Kopf bis Fuß mit Dreck verschmiert sein und zur Geisel der Kreml-Falken“, schreibt die russische Tageszeitung Moskowski komsomolez vor Beginn des zweiten Prozesses im Februar 2009.
Der erste Prozess 2005 hatte Chodorkowski und seinem Geschäftspartner Platon Lebedew die Zahlung von umgerechnet 2,85 Milliarden Euro und neun Jahre Haft eingebracht, die später auf acht reduziert wurden. Das Vergehen: Steuerbetrug. Nun das zweite Verfahren. Der Vorwurf: Unterschlagung und Geldwäsche in Höhe von rund 20 Milliarden Euro. „Abwegig“, sagen die Verteidiger. Das Unternehmen hätte keine Gehälter zahlen, geschweige denn Steuern hinterziehen können, hätten die Angeklagten tatsächlich so viel Geld unterschlagen. Doch just wegen Steuerbetrugs sitzen beide seit Jahren in Haft.
Selbst amtierende und ehemalige Politiker des Landes nennen die Anklage „grotesk“. German Gref, Wirtschaftsminister unter Putin, sagte im Juni zugunsten der beiden aus. Niemals hätte eine solche Menge Öl – es geht dabei um mehr als 200 Tonnen – ohne sein Wissen verschwinden können, sagte Gref.
Die russische Justiz hat sich seit den Sowjetzeiten nicht von der Rolle des Handlangers politischer Macht befreien können. Russlands Richter sind keine selbstbewusste Kraft, die sich an freiheitlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen orientiert. Ein Schuldspruch gilt als Etappensieg. 99 Prozent aller Prozesse in Russland enden Angaben der Europa-Universität St. Petersburg zufolge mit der Verurteilung des Angeklagten. In westeuropäischen Ländern liegt die Freispruchquote bei etwa 15 Prozent. Für viele Juristen habe in sowjetischer Tradition der Staat immer Recht, sagt ein ehemaliger Richter. Er hatte vor sechs Jahren seinen Job verloren – wegen „merkwürdiger Milde in den Urteilen“. In Zeiten des Diktators Stalin hatte ein Freispruch automatisch die Überprüfung des Richters nach sich gezogen. Die Partei nutzte ihr „Telefonrecht“. Die Politik gab die Richtung vor, Gerichte führten sie aus.
In seinem Schlussplädoyer im Oktober hatte Chodorkowski Rechtssicherheit, unternehmerische Freiheit, Schutz des Eigentums und politischen Pluralismus gefordert. Das alles gehört auch zum Repertoire Medwedews. Seit das Moskauer Chamowniki-Gericht vor zwei Wochen das Verlesen des Urteils ohne Angabe von Gründen nach hinten verschob, steht für viele fest: Es bleiben auch weiterhin nur liberale Schaufensterreden des Präsidenten.