Moldawien

Weihnachten im Waisenhaus

Über der „Stadt der Kinder“ liegt ein grauer Schleier. Es ist kalt und matschig, um vier Uhr nachmittags fängt es bereits an, dunkel zu werden. Nur wenige Kinder spielen draußen. Die meisten haben sich in eines der 13 Kinderhäuser zurückgezogen und machen Hausaufgaben oder basteln. Zum Beispiel im „Haus Markus“. Die zwölfjährige Olga sitzt am Esstisch und formt mit kleinen, zierlichen Händen eine Figur aus Ton. Ein Elefant soll es  werden. Im Moment sieht der braune Tonklumpen eher nach einem zu groß geratenen Hund aus. Olga fühlt sich sichtlich wohl. Sie lacht, ihre dunkelbraunen Augen strahlen. Das war nicht immer so, am allerwenigsten vor sechs Jahren, als sie in das Kinderdorf in Pirita kam, 30 Kilometer von der Hauptstadt Chisinau entfernt. Olga ist Vollwaise, beide Eltern sind kurz nacheinander gestorben. „Sie hatten Probleme mit ihrem Herzen“, erklärt das Mädchen.

Ein Drittel der 300 Kinder hier sind wie Olga Vollwaisen. Zwei Drittel der Heimbewohner sind dagegen so genannte „Sozialwaisen“: Kinder, die im Heim leben, weil ihre Eltern ihr Geld im Ausland verdienen. Eine von ihnen ist die zehnjährige Elena. Sie sitzt in der kleinen Kapelle, in der sich die Kinder jeden Tag um sechs Uhr zum Gottesdienst versammeln. Im Gegensatz zu Olga lacht Elena nur selten. Erst nach einer Weile erzählt sie von ihrer Mutter: „Sie arbeitet in Italien, ich habe sie vor vier Jahren das letzte Mal gesehen.“ Das Mädchen schluckt und wischt sich eine Träne von der Wange. Sie weiß, dass sie in der „Stadt der Kinder“ nicht die Einzige ist, der es so geht. Aber gerade zu Weihnachten sei das besonders hart, sagt die Zehnjährige. „Wenn meine Mama wieder zurückkommen würde, wäre das für mich das größte Geschenk.“ Elena weiß, dass das unwahrscheinlich ist.

„Viele Moldauer, die ins Ausland gehen, haben die Illusion, dass sie dort schnell Geld verdienen können und drei Monate später schon wieder zu Hause sind. Doch das funktioniert nicht“, sagt die Österreicherin Angela King, die das Kinderdorf in Pirita leitet. Auch die Mutter von Elena sagte, dass sie in wenigen Monaten wieder zurückkommen werde – aus wenigen Monaten sind inzwischen vier Jahre geworden, und ein Ende ist bislang nicht absehbar. Dabei hatte Elena Glück. In dem Kinderdorf in Pirita bekommt sie eine intensive Sprachförderung, warme Kleidung und Essen.

In Moldau, dem schmalen Land zwischen Rumänien und der Ukraine, verdienen die Menschen durchschnittlich 120 Euro im Monat – so wenig wie in keinem anderen europäischen Land. Deshalb gilt die Republik Moldau als das „Armenhaus Europas“. Am meisten bekommen das die zurückgelassenen Kinder zu spüren: Offiziell gibt es rund 270.000 Kinder, die nicht von ihren Eltern betreut werden – die Dunkelziffer ist wohl um ein Vielfaches höher. Oft überlassen die Arbeitsmigranten ihren Nachwuchs den Großeltern oder Nachbarn, die sie dafür bezahlen. Allein 2007 ist so mehr als eine Milliarde Euro nach Moldau zurückgeflossen: Die Auslandsüberweisungen entsprechen einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts – und sind damit so hoch wie in keinem anderen europäischen Land.


Bei der „Stadt der Kinder“ handelt es sich um ein Sozialprojekt von „Concordia“, das 1991 von dem österreichischen Jesuitenpater Georg Sporschill aus der Taufe gehoben wurde. Zunächst hat sich „Concordia“ um Straßenkinder in Rumänien gekümmert, vor sechs Jahren kam schließlich das Kinderdorf im moldauischen Pirita hinzu. „Concordia“ finanziert sich ausschließlich von Spenden und unterstützt in Moldau neben dem Kinderdorf insgesamt 40 Suppenküchen und zehn Sozialzentren für alte Menschen. Mehr Informationen unter: www.concordia.or.at.


Martin Wyss von der internationalen Organisation für Migration, IOM, bestätigt: „Jeder kennt einen, der im Ausland arbeitet. Meistens ist man sogar selber betroffen. Es ist also ein Problem, das man nicht etwa aus einem Lehrbuch kennt sondern aus dem echten Leben.“ Dabei zeige die Statistik, so Wyss, dass es den Familien, die einen Arbeitsmigranten hätten,materiell durchaus besser ginge. „Außerdem muss das nicht nur schlecht sein: Solange es eine feste Bezugsperson gibt, wirkt sich das auf das Kind nicht zwangsläufig negativ aus.“ Doch meistens fehlt es an genau daran. Viele Familien zerbrechen durch die räumliche Trennung. Dann sind die Kinder plötzlich auf sich gestellt und müssen selber schauen wie sie klar kommen – im Alter von sechs, sieben Jahren eine maßlose Überforderung.

Deshalb kommen viele Kinder ins Heim – und manche Wenige nach Pirita. Hier stehen den Erziehern 5,50 Euro pro Tag und Kind zur Verfügung. Damit ist mehr Förderung möglich als in staatlichen Einrichtungen. Das jüngste Kind hier ist eineinhalb: Slavek ist ein aufgeweckter blonder Junge mit schweren Windeln zwischen den Beinen. Er kann hier so lange bleiben, bis er volljährig ist. Dann wird er das Kinderdorf verlassen und eine Ausbildung machen oder studieren, wie viele seiner Vorgänger. Seine Eltern arbeiten im Ausland – in Russland oder in Italien, niemand weiß das so genau. Sein Vater ist vermutlich auf dem Bau, seine Mutter verdient ihr Geld – vermutlich – mit Putzen.

Die Moldauer sind gefragte Arbeitskräfte, Russland wirbt sie seit einiger Zeit sogar massiv an. Bis zu den Olympischen Spielen in Sotchi sind es noch gut drei Jahre. Neben den Ukrainern werden hier also auch viele Moldauer zum Einsatz kommen. „Sozialwaisen“ wie Slavek und Elena werden in Zukunft also nicht die Ausnahme sein, sondern eher die Regel.


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