Dem Diktator in die Suppe spucken
„Man muss einen Borschtsch nicht aufessen, um zu merken, dass er nicht schmeckt“, sagt Viktor Malischewsky und lächelt in die Runde. Der mittelgroße Mann mit den blonden Haaren und der Designerbrille ist einer von zehn belarussischen Bloggern, die an diesem Morgen an einem Berliner Konferenztisch über die Sicherheit im Internet diskutieren. Die Teilnehmer wissen, dass Malischewsky nicht über die Feinheiten osteuropäischer Küche redet, sondern über das Risiko, als Blogger ins Visier des weißrussischen Geheimdienstes zu geraten. Dazu reiche vermutlich schon ein einziger regimekritischer Kommentar, sagt Malischewsky. „Ganz sicher weiß das niemand. Aber die Angst hat in der belarussischen Gesellschaft sehr viel mehr bewirkt als konkrete Handlungen des Geheimdienstes.“
Der Blogger Viktor Malischesky / Nicholas Brautlecht, n-ost
Malischewsky ist einer der bekanntesten Blogger in Belarus. Seit zweieinhalb Jahren nimmt der ehemalige Vize-Chefredakteur der belarussischen Komsomolskaja Prawda den politischen Alltag der sogenannten letzten Diktatur Europas unter die Lupe. Leben kann er davon nicht. Sein Geld verdient er vor allem mit Weiterbildungsseminaren für Journalisten. Derzeit haben Malischewsky und seine Bloggerkollegen besonders viele Leser. Denn am 19. Dezember finden Präsidentenwahlen statt. Dann will sich der Autokrat Alexander Lukaschenko nach 16-jähriger Herrschaft für weitere fünf Jahre im Amt bestätigen lassen.
Wie bei früheren Urnengängen erwarten Menschenrechtsgruppen Wahlbetrug. Schon im Vorfeld wird manchem Staatsbediensteten mit dem Verlust des Arbeitsplatzes gedroht, wenn er Lukaschenko nicht unterstützt. Doch immerhin ist die Ausgangslage bei dieser Wahl eine andere als bei vorigen Abstimmungen: Denn der große slawische Bruder Russland zeigt Lukaschenko die kalte Schulter. Seit Monaten tobt ein Streit zwischen beiden Ländern, weil Russland die Gaspreise für den Nachbarn drastisch erhöht hat. Daher muss sich Lukaschenko verstärkt dem Westen zuwenden und der Abstimmung einen besonders demokratischen Anstrich geben.
Trotzdem bleibt die Opposition schwach und gespalten. Statt sich auf einen Gegenkandidaten zu einigen, schickt sie neun Kandidaten ins Feld. Anders als bei früheren Wahlen dürfen die Herausforderer im Vorfeld der Abstimmung zwar live im Fernsehen und Radio auftreten, was als Fortschritt bewertet werden kann. Doch kritisieren Menschenrechtsgruppen, dass ihre Sendezeit begrenzt ist, während Lukaschenko sich unbegrenzt in staatlichen Medien inszenieren kann. Den wenigen unabhängigen Zeitungen wie Nascha Niva oder Belorusy i Rynok, die sich mehr auf die Opposition konzentrieren, fehlt es an Reichweite. Auch aus diesem Grund belegt Belarus auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen Platz 154 von knapp 180 Staaten.
Doch unter der Oberfläche regt sich Widerstand. Ein immer größerer Teil des Zehn-Millionen-Einwohner-Landes ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus aufgewachsen. Möglich macht dies das Internet: Fast jeder zweiter Belarusse nutzt nach Angaben der Organisation Internet World Stats das Netz. Zwar verschärfte Lukaschenko im Juli die Kontrolle über das Netz. So muss jeder Besucher eines Internet-Cafés den Pass vorzeigen, um online zu gehen. Zudem werden Nutzerdaten ein Jahr lang gespeichert. Doch die Folgen für die Blogosphäre sind bislang gering, denn die Autoren können auf ausländische Domains ausweichen. Das World Wide Web bietet genügend Freiräume.
Der Blogger Viktor Malischewsky postet seine Kommentare auf dem russischen Internetportal Livejournal. Er glaubt an die wachsende Bedeutung von Blogs. „Da sich der Journalismus in Belarus durch Zensur, Selbstzensur und staatlichen Druck immer mehr zurückzieht, gibt es Nischen, in die Blogger vorstoßen können“, sagt er. „Ich schreibe über Themen, über die Journalisten schreiben sollten, aber nicht schreiben.“
Bekannt wurde Malischewsky in Belarus durch einen Skandal um die Armbanduhr des Präsidenten. Er deckte auf, dass Lukaschenko 11.000 Euro am Handgelenk trug. Dafür müsste ein Weißrusse im Schnitt etwa vier Jahre arbeiten Ende November zeigte er auf seinem Blog, wie wenig sich Lukaschenkos Wahlprogramme seit seiner Machtübernahme 1994 verändert haben: Er versprach bei der Abstimmung 2001 eine Annäherung ihres Lebensstandards an das westeuropäische Niveau, und verspricht es ihnen heute noch immer.
Während Malischewsky in ironischem Ton die Absurditäten des Lukaschenko-Regimes entlarvt, ist sein Bloggerkollege Sergej Chaly der Mann für die harten Fakten. Der 40-Jährige, den man wegen der langen Mähne und der schwarzen Lederjacke auch für ein Mitglied der Hells-Angels halten könnte, hat Lukaschenkos Schaltzentrale von innen kennengelernt. Chaly arbeitete zwischen 1994 und 1998 als Wirtschaftsberater für den Präsidenten. Heute verdient er als unabhängiger Analyst sein Geld und zeigt in seinem Blog, dass auch trockene Wirtschaftsthemen Zündstoff bieten können.
Der Blogger Sergej Chaly / Nicholas Brautlecht, n-ost
Als die Regierung ihren zahlreichen Staatsbediensteten pünktlich zu den Wahlen eine Erhöhung der Durchschnittsgehälter auf 500 Dollar im Monat versprach, griff Chaly zum Taschenrechner. „Ich habe in meinem Blog gezeigt, dass das Programm mathematisch keinen Sinn ergibt“. Nach Chalys Berechnungen sind die Gehaltsunterschiede so groß, dass nur die wenigen Besserverdienenden von dem Vorhaben profitieren könnten, die vielen Geringverdiener dagegen kaum. „Doch der Wirtschaftsminister hat das mehrmals bestritten“, sagt Chaly.
Aber wie weit reicht die Macht der belarussischen Blogger wirklich? „Der Einfluss der Blogger besteht darin, dass wir Fragen stellen und Gedanken äußern, die Journalisten dann aufgreifen und bei Pressekonferenzen zur Diskussion stellen“, sagt Malischewsky. Auf diese Weise geraten sie nicht in die Schusslinie und können dennoch brisante Themen aufgreifen. So gelang auch die Geschichte über Lukaschenkos Armbanduhr in einige Zeitungen. Für Malischewsky blieb der Skandal ohne Folgen. „Aber Blogger sollten nicht zu sehr versuchen, Einfluss zu nehmen, sonst wäre das ein Schritt in die Politik“, so Malischewsky.
Dass man den Diskurs im Internet nicht unterschätzen sollte, zeigt das Interesse der Präsidentschaftskandidaten an den Bloggern. Vor allem die Kandidaten der Opposition binden die Meinungsmacher im Netz in ihre Wahlkampfstäbe ein, da ihnen der Zugang zu den traditionellen Medien weitestgehend verwehrt ist. Ein Beispiel hierfür ist die Website Charter97, die von dem Oppositionskandidaten Andrej Sannikow geführt wird. Auch Malischewsky wurde von zwei Oppositionsparteien angesprochen, darunter von den Christdemokraten. Doch der Blogger winkte ab. Seine Unabhängigkeit sei ihm wichtiger, sagt er. Wird er denn am 19. Dezember seine Stimme abgeben? „Natürlich gehe ich wählen“, sagt er. „Ich wähle gegen alle. Das ist der Kandidat mit dem überzeugendsten Programm!“
Anm. der Redaktion:
Die belarussischen Blogger waren auf Einladung von n-ost im Oktober 2010 in Berlin. Im Rahmen dieses Projekts entstand dieser Text.