Die Flucht vor dem Virus
Der Tod, sagt Roman Ledkow, sitze ihm immer im Nacken. Seit zwölf Jahren begleitet er ihn, auf Schritt und Tritt, ist auf Geburtstagen dabei, bei Spaziergängen, in ruhigen Stunden der Muße. Doch er hat ihn gezähmt, den Tod. Ihn vielleicht auch ein wenig überlistet. Roman Ledkow ist HIV-positiv. Wie 30.000 Moskauer, fast 600.000 Russen, 1,4 Millionen Menschen in Osteuropa, die die Vereinten Nationen in ihrer aktuellen Statistik aufführen. Kaum ein anderes Land auf der Welt hat eine so rasant ansteigende HIV-Rate wie Russland.
„Es sind erschreckende Zahlen“, sagt Roman Ledkow. Er redet ruhig, hier im Büro der „Allrussischen Vereinigung von Menschen, die mit HIV leben“. Es ist eine helle Wohnung am äußeren Moskauer Zentrumsrand, mitten im Wohngebiet voller Ziegelstein-Neungeschosser. Erst vor einem halben Jahr sind die Mitarbeiter eingezogen. Die Regierung und einige internationale Organisationen unterstützen das Projekt finanziell. Um wie viel Geld es geht, sagt Roman Ledkow nicht. Noch ist das Büro nicht fertig eingeräumt, an der Klingel steht noch nichts von der Vereinigung, die sich um HIV-Infizierte und Aids-Kranke im ganzen Land kümmert. „Von Kamtschatka bis Kaliningrad“, sagt Roman Ledkow. Sein Stolz klingt traurig.
Während die Zahl der Neu-Infektionen seit 1999 weltweit um 19 Prozent auf 2,6 Millionen Menschen zurückgegangen ist, stieg sie in Russland im vergangenen Jahr um acht Prozent an. Damit lebt 1,1 Prozent der Bevölkerung im größten Land der Erde mit HIV oder Aids. In Deutschland beträgt der Anteil 0,1 Prozent. Der Virus trifft vor allem junge Russen: 70 Prozent der Neu-Infizierten sind zwischen 15 und 25 Jahren. Von den Randgruppen der intravenösen Drogennutzer, Prostituierten und Homosexuellen dringt HIV seit einigen Jahren mitten in die Gesellschaft vor.
Zum 1. Dezember, dem Welt-Aids-Tag, haben die 15 Mitarbeiter der „Vereinigung“ viel zu tun. Mit Politikern sprechen, Flyer verteilen, Aktionen vorbereiten. „Aber es muss einfach viel mehr für die Aufklärung getan werden. Das ganze Jahr über, nicht nur an Gedenktagen. Es muss in den Schulen darüber geredet, im Parlament diskutiert werden.“ Roman Ledkow ist nicht zu stoppen.
Er weiß, dass Aufklärung und Vorsorge in Russland fehlen, weiß, dass die Regierung Hilfsprogramme startet, um sie dann unbegründet wieder zu streichen, weiß, dass die Gesetze das Verteilen von sauberen Spritzen unter Strafe stellen, dass in Gefängnissen des Landes zwei Ärzte auf 1.000 Patienten kommen und von Schnupfen bis Aids alles behandeln. Aber er gibt sich versöhnlich. „HIV ist kein Tabuthema mehr wie noch vor einigen Jahren. Es gibt Therapien, die Regierung zahlt die Medikamente.“ 13,4 Milliarden Rubel, das sind umgerechnet 320 Millionen Euro, gibt der russische Staat für die Behandlung von HIV und Aids in diesem Jahr aus. 2009 waren es neun Milliarden Rubel.
„Eigentlich dürfte es mich seit zehn Jahren nicht mehr geben.“ Roman Ledkow lächelt. Zwei Jahre hatten ihm die Ärzte noch gegeben. Damals, 1998, als sie ihm an seiner technischen Berufsschule im sibirischen Irkutsk die Diagnose mitteilen. Etwa 1.000 Schüler testen die Mediziner, 180 von ihnen haben den Virus. „HIV-positiv. HIV-positiv.“ Es hämmert in seinem Kopf. Roman Ledkow ist da gerade Vater geworden. Er flieht. Vor der Diagnose. Flüchtet von der Familie. Von einem Tag auf den anderen. Sagt nichts. Ja, die Heroinspritzen. Ja, „das übermäßige Sexleben“. Er resigniert.
Der 35-jährige Roman Ledkow vor der „Stars-Wand“ in der „Allrussischen Vereinigung von Menschen, die mit HIV leben“ in Moskau: Hier informiert er mit seinen 14 Kollegen Infizierte und Betroffene aus ganz Russland über den HI-Virus. Foto: privat
„HIV bedeutet Aids, bedeutet Tod.“ Es gibt nur diesen Gedanken in seinem Kopf. Er reist durchs Land, geht überall zum Arzt. Zehn Städte, zehn Tests, zehn Mal das gleiche Ergebnis. 2004 kommt er zur Ruhe. Seit 2006 nimmt er Tabletten, zwei Mal am Tag. Er lebt, fühlt sich fit. Kein Wort mehr von „nur noch zwei Jahre zu leben“. Er weiß, dass es auch andere Fälle gibt, immunschwächere Menschen. Er fängt ein Studium an – Religionswissenschaften. Trifft sich mit seiner Ex-Frau, dem Sohn. Sie sind nicht infiziert. Erleichterung. Ledkow engagiert sich, informiert Freunde, informiert die Bevölkerung, auf der Straße, am Telefon. „Je mehr man weiß, desto kleiner werden die Berührungsängste“, sagt er. Seit einem halben Jahr wohnt er in Moskau. Hier will er bleiben. „Und hoffentlich bald meine Freundin heiraten.“
Unaids, die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, schätzt die Zahl der HIV- und Aids-Erkrankten weltweit auf 33,3 Millionen Menschen. Am schwersten betroffen ist nach wie vor das südliche Afrika. Die Zahl der Neuansteckungen geht hier laut Unaids allerdings immer weiter zurück. Entgegen dem weltweiten Trend wächst die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Osteuropa und Zentralasien. Im Jahr 2009 gab es in dieser Region 1,4 Millionen Infizierte, das bedeutet einen Anstieg um 66 Prozent seit 2001, heißt es im Weltbericht zur HIV-Epidemie. Die Ukraine weist die höchste Infektionsrate in Europa auf: 1,6 Prozent der Bevölkerung leben mit dem Virus.