Russland

Interview mit Tschetschenen-Führer Achmed Sakajew

Wie geht es Ihnen, wenn Sie Nachrichten aus Tschetschenien hören?

Sakajew: In den letzten zehn Jahren haben wir nur Negatives gehört. Als Person, die in alle politischen Prozesse involviert war, ärgert mich das. Aber ich verstehe die Ausweglosigkeit der Situation.

Welche Situation ist das: Krieg? Frieden? Beruhigt sich die Lage?

Sakajew: Das tschetschenische Volk ist Geisel des Kreml und seiner Handlanger. Jeden Tag ist es deren Gewalt ausgesetzt. Jeden Tag sterben Menschen. Jeden Tag gibt es Entführungen, Folter, Hinrichtungen ohne Prozess. Tschetschenien ist eine offene Wunde am Körper Europas. Die Europäer sollten und könnten eingreifen. Aber sie verschließen die Augen.

Wer hat das Sagen im Widerstand? Moskau wirft Ihnen vor, Sie würden im Kampf gegen Russland eine koordinierende Rolle spielen.

Sakajew: Zu meinem größten Bedauern ist das nicht der Fall. Ich habe keine Möglichkeit, auf die militärische Situation Einfluss zu nehmen. Mit der einseitigen Ausrufung des Kaukasischen Emirates durch den Guerillaführer Doku Umarow 2007 ist eine Spaltung passiert. Seither ist die militärische Komponente des Widerstandes abgegrenzt von der politischen. Aber abgesehen von unseren militärischen Ressourcen gilt: In diesem Konflikt gibt es keine Lösung durch Gewalt.

Tschetscheniens Autonomie geht sehr weit, die Republik verfügt über eigene Sicherheitsdienste, Steuerhoheit usw. Ist das für Sie eine Lösung?

Sakajew: Ich habe immer gesagt, dass Unabhängigkeit kein Selbstzweck ist. Für uns garantiert sie die Sicherheit des Volkes. Putin hat einmal eine ähnliche Aussage gemacht: Dass für Russland der formelle Status Tschetscheniens unwichtig ist. Für Moskau ist wichtig, dass Tschetschenien keine Aufmarschbasis für Aggressoren ist. Ich bin überzeugt, dass man auf dieser Basis eine Formel zur Koexistenz und Lösung des Konflikts finden kann.

Wie würden Sie den derzeitigen rechtlichen Status Tschetscheniens bezeichnen? Ein legaler Zustand?

Sakajew: Tschetschenien ist der einzige Ort Europas, an dem es keine Gesetze gibt. Überhaupt keine.

Russland argumentiert, dass Gesetzlosigkeit herrscht, weil Terroristen wie Umarow aktiv sind. Und im selben Atemzug werden auch Sie genannt.

Sakajew: Ich war seit dem Jahr 2000 nicht mehr in Tschetschenien. Ich kann auf die Lage keinen Einfluss mehr nehmen. Die Verantwortung dafür, was sich heute in Tschetschenien abspielt, liegt bei jenen, die behaupten, die Situation zu kontrollieren. Was Umarow angeht, bin ich überzeugt, dass er gesteuert wird. Die Provokationen und Terrorakte, zu denen er sich bekannt hat, wurden abgestimmt. Sie wurden unter Kontrolle der russischen Regierung und des Geheimdienstes FSB verübt.

Was haben Sie in der Hand, um eine Lösung herbeizuführen?

Sakajew: Die Dokumente, den Friedensvertrag von 1997. Die Überzeugung, dass sich das tschetschenische Volk nicht mit der Situation abfinden wird. Im Gefüge der Welt hat sich viel verändert. Bis heute stand die territoriale Einheit des Staates über dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Aber die USA und die EU haben den Kosovo als Staat anerkannt. Und Russland – das in der Sache Tschetscheniens immer an die territoriale Einheit appellierte – hat Südossetien und Abchasien als von Georgien unabhängige Staaten anerkannt. Wir wissen, dass Russland interessiert sein wird, die Konflikte im Nordkaukasus politisch zu lösen. Denn heute herrscht nicht nur in Tschetschenien Krieg, sondern im gesamten Nordkaukasus. Stabilität in Tschetschenien ist Stabilität im Kaukasus, Stabilität im Kaukasus ist Stabilität in Russland und Stabilität in Russland ist Stabilität in der Welt.

ÜBER ACHMED SAKAJEW

Wanted: Achmed Sakajew. Gesucht wegen Verbrechen gegen Leib und Leben, Entführung, Terrorismus. So lautet der Interpol-Haftbefehl gegen Achmed Sakajew. Ausgestellt auf Antrag der russischen Generalstaatsanwaltschaft. Aus Sicht Moskaus ist Sakajew ein Staatsfeind; in Großbritannien genießt er seit 2003 politisches Asyl. Er ist Premier der „Tschetschenischen Republik Itschkeria“, der nicht anerkannten tschetschenischen Exil-Regierung. Und er ist der einflussreichste Vertreter des tschetschenischen Widerstandes im Ausland. Russland sieht in ihm einen Koordinator der Aufständischen.

Sakajew wurde 1959 in Kasachstan geboren und wuchs in Tschetschenien auf. In Grosny studierte er Schauspiel. 1994 wurde er Kulturminister unter Tschetscheniens erstem gewählten Präsidenten Dschochar Dudajew. 1997 wurde Sakajew Außenminister, später Gesandter von Präsident Aslan Maschadow – zuerst in Moskau, ab 2001 im Exil in London.

Sakajew wird dem patriotisch-nationalistischen Teil des Widerstandes zugerechnet: jener Fraktion, die seit dem Friedensvertrag von 1997 in Konflikt mit Islamisten und Wahhabiten geriet, zugleich aber auf deren fanatisierte Kämpfer angewiesen war – etwa auf Doku Umarow. Nach Maschadows Tod wurde Umarow Präsident der tschetschenischen Untergrundregierung. Zu dem Zeitpunkt hatten die Kadyrows mit Rückendeckung aus Moskau bereits inoffiziell die Macht übernommen. 2007 machte sich Umarow zum Emir eines selbst ausgerufenen Nordkaukasischen Emirats und bekannte sich seither zu zahlreichen Selbstmordanschlägen – unter anderem auf die Metro in Moskau. Der Kreml sieht Sakajew ebenso hinter diesen Anschlägen. Aus tschetschenischer Sicht aber brachte die Ausrufung des Emirats den endgültigen Bruch zwischen Islamisten und Nationalisten, die sich auf den Friedensvertrag von 1997 berufen. Darin wurde zwar der Waffenstillstand besiegelt, nicht jedoch der Status Tschetscheniens geregelt.


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