Moskau erlaubt zum ersten Mal Demonstration der Protestbewegung "Strategie31"
Ljudmila Alexejewa atmet durch. Hier in ihrer kleinen Wohnung am Arbat, der Flaniermeile im Herzen Moskaus, hat die 83-Jährige erst einmal Ruhe. Die Flyer, die Befragungen, die Verhandlungen im Rathaus: Hinter der alten Dame der russischen Menschenrechtsbewegung liegen harte Stunden. Debatten, mit denen sie sich auskennt: Seit 45 Jahren ist die frühere sowjetische Dissidentin und heutige Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe im Einsatz für die Demokratie.
Es ist ein Spiel der Zahlen. Und der Worte. Ein Hin und Her aus Argumenten, Kompromissen, Sticheleien. Ein Spiel, das keine Regeln kennt. Nur einen Grundsatz: verbieten. Die Moskauer Stadtverwaltung kennt sich darin aus, auch für die Oppositionellen ist es nichts Neues mehr. Deshalb ist es eine Überraschung, dass der frisch gewählte Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin nun erstmals eine Demonstration der Protestbewegung „Strategie 31“ erlaubt hat. Die Bürgerrechtler versammeln sich jeweils am 31. eines Monats und demonstrieren für die Versammlungsfreiheit. Die ist nach Paragraph 31 der russischen Verfassung garantiert – aber nur auf dem Papier. Bislang hatten die Behörden die Aktion immer verboten und dann gewaltsam aufgelöst. Gestattet hat Sobjanin für den kommenden Sonntag nun eine Versammlung von 800 Demonstranten. Nach längerem Hin- und Her akzeptierte die Opposition die Bedingungen der Stadt. Zunächst hatten die Aktivisten 1500 Menschen angemeldet.
„Wer auch immer hinter Sobjanin steckt, für die Bewegung 31 ist es ein großer Erfolg“, sagt Ljudmila Alexejewa. Sie nennt es „Bewegung“, nicht „Strategie“, wie der Initiator der Aktion Eduard Limonow, dieser eigenwillige Schriftsteller und Gründer der verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. „Solche Worte aus dem Militärvokabular liegen mir nicht“, sagt die alte Dame. Ihr liege es auch nicht, sich lautstark vor Massen zu streiten. „Uns wurde von Seiten der Stadt versprochen, für die Sicherheit aller zu garantieren, die am Sonntag auf den Triumphplatz kommen. Ob es nun mehr als 800 werden, wer weiß?“ Doch nicht alle sind mit den Zugeständnissen einverstanden. Eduard Limonow, der narzisstische Krakeeler, sieht es anders. „Abscheulich“, nennt er die Zugeständnisse Alexejewas, greift sie verbal als „unehrlich“ an. Die Worte prallen an der Menschenrechtlerin ab. „Wir sollten uns über unsere Errungenschaft freuen und uns nicht gegenseitig zerfleischen.“
Alexejewa redet leise, schluckt schwer. Das Magengeschwür macht ihr zu schaffen, die Tabletten helfen nur bedingt. Und diese kalte Winterluft. „Das Klima in diesem Land würde ich gern verbessern, im Winter ist es zu kalt, im Sommer zu heiß.“ Sie lacht. Ein herzliches Lachen auf diesem strengen Gesicht, umrahmt von schlohweißem Haar. Aber das politische Klima, das lasse sich ändern. „Ich will, dass sich die Regierung um die Bürger kümmert, dass sie die Menschenrechte achtet.“ Sie protestiere nicht, kämpfe nicht. „Ich bin nur aktiv.“
Die alte Dame des Widerstands: Die 83-jährige Ljudmila Alexejewa ist seit 45 Jahren im Einsatz für Menschenrechte in Russland / Inna Hartwich, n-ost
Alexejewa kennt es nicht anders. Bereits zu Breschnew-Zeiten sagte sie, was sie dachte, und musste 1977 das Land verlassen. Sie provozierte, indem sie bei Verhören in aller Seelenruhe Orangen schälte. „Ach ja, die Vergangenheit. Jetzt schenken mir die Milizionäre Bonbons, wenn sie mich festnehmen.“ Immerhin, vieles habe sich geändert. „Es ist freier geworden. Jetzt kann ein einfacher Arbeiter sogar gegen die Russische Föderation vor dem Gerichtshof in Straßburg klagen.“ Das überrasche sie an manchen Tagen immer noch – und freue sie.
Wie es sie auch freue, wenn sie viele junge Gesichter bei den Straßenprotesten sieht. Gesichter wie das von Sascha Artemjew, Nickelbrille, kurzer Bart. Mit sieben Jahren lief er bereits an der Hand seiner Mutter bei Demonstrationen mit, als das Land sich neu entdeckte. Er sah die Panzer vor das Weiße Haus rollen, damals im August 1991, als Boris Jelzin sich gegen die Putschisten stellte und die Sowjetunion endgültig zu Grabe trug. „Es hat sich so ergeben“, sagt der 26-Jährige heute. Genau so wie es sich ergeben hat, dass er den Kundgebungen bis heute treu geblieben ist. Er geht mit Misstrauen auf die Demos, bleibt auch an diesem Sonntag skeptisch. Denn die Stadtverwaltung hatte die Demonstration zunächst wieder verboten, weil die Bürgerrechtler sich nicht mit der Begrenzung auf 800 Teilnehmer zufriedengegeben hatten. Erst, als die Oppositionellen diese Zahl akzeptierten, willigten die Behörden ein. „Ich kann es noch nicht einordnen, was die Stadtverwaltung mit ihrem Ja, ihrem Nein und dem anschließenden Ja demonstrieren will“, sagt Artemjew.
Sein Geld verdient der promovierte Historiker als Journalist bei der Internetzeitung gazeta.ru. In seiner Freizeit geht er als Aktivist für die liberale Bewegung „Solidarnost‘“ regelmäßig auf die Straße, Festnahmen hin oder her. „Wenn man nichts tut, ändert sich auch nichts.“ Acht Mal nahm ihn die Miliz bereits mit. „Ich kam mit Geldstrafen davon.“ Bis ihm ein Milizionär bei der verbotenen Strategie 31-Aktion im Mai dieses Jahres den linken Arm brach. Immer noch muss er die schweren Türen zur Moskauer Metro mit der Schulter aufmachen. „In diesem Land ist es wie in einem Keller, in dem es nach Verwesung riecht.“ Artemjew findet sie schnell, die Bilder, mit denen er sein Land beschreibt. Er will, dass die Gesellschaft „lebendig bleibt“ – und stellt sich deshalb in die Menge der Demonstranten, meist weit weg von Alexejewa, die er nicht persönlich kennt. „Sie ist ein Symbol, das Gesicht, die Stimme des Protests“.
Ihre Stimme ist auch nach Jahrzehnten nicht verstummt. „Es gibt unzählige Nicht-Einverstandene, sie lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren.“ Alexejewa lehnt sich auf ihrem blauen Sofa zurück. „Die Regierung hat vieles falsch gemacht. Wie wir alle. Wir wussten doch nicht, wie das geht, Demokratie. In 15 Jahren, da bleibt auch unserem Staat nichts anderes übrig, als sie zu leben. Ich werde es aber nicht mehr erleben.“