Der lange Schatten des Slobodan Milosevic
Ein Neubauviertel in „Novi Beograd“, der Trabantenstadt am Westufer der Save. Die blonde Olga Lazarevic hat hier eine Wohnung für sich und ihren fünfjährigen Sohn gekauft. Die Preise sind westlich. „Ein Autogaragenplatz kostet 20.000 Euro“, erzählt sie und nippt an ihrem Mineralwasser. „Am 5.Oktober 2000“, erinnert sie sich, „war eine tolle Atmosphäre“. Sie studierte damals noch Germanistik, lernte gerade für eine Prüfung, als sich die Demonstranten formierten. „Auf der Brücke stand eine lange Schlange Autobusse, Tausende waren unterwegs mit Fahnen und Trillerpfeifen“, sagt sie.
Gesamte Führung soll zurücktreten
Olga reiht sich ein. Es geht in Richtung Innenstadt, zum Parlament. Auch Ljubisav Djokic ist dorthin unterwegs. Der Bauunternehmer fährt einen Bagger. „Ich wollte Milosevic stürzen“, erzählt der Rentner. Als er am Parlament in der Innenstadt ankommt, haben Demonstranten bereits begonnen, Molotowcocktails in die Fenster zu werfen. Die Polizei antwortet mit Tränengas. „Ich fuhr mit dem Bagger ans Parlamentsgebäude“, erzählt Djokic, „hob ein paar Leute in die Baggerschaufel – und dann legten sie im ersten Stock Feuer“. Die Demonstranten fordern den Rücktritt des Diktators Slobodan Milosevic. Sie sind wütend wegen der Wahlfälschungen bei der Präsidentenwahl vom 24.September. Und sie fordern: Die gesamte Führung muss zurücktreten.
„Bagger-Joe“, wie ihn seine Freunde nennen, fährt vom Parlament wenige Häuserblocks weiter zum Fernsehsender RTS. „Überall war Tränengas, und ein paar Polizisten hatten sich dort verschanzt – die schossen wie wild auf mich“, erzählt Ljubisav Djokic. Viele Projektile prallen an der Baggerschaufel ab, aber „eins streifte mein Ohr, und eins zerfetzte meinen Jackenärmel“, erinnert sich Rentner Djokic. Ein Offizier war hinten auf den Bagger geklettert, hatte von dort auf ihn gezielt. „Sehen Sie, das ist dieser Mann hier“, sagt „Bagger-Joe“ und zeigt auf einen Zeitungsausschnitt. „Vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat er ausgesagt, dass er den Auftrag hatte, mich zu töten“.
Einige Kilometer entfernt von seiner Wohnung, in einer Kiesgrube steht das Wrack seines Baggers. Der Motor ist ausgebaut, das Metall verrostet, aber die Einschusslöcher in der Windschutzscheibe des Führerhauses sind noch gut zu sehen. „Bagger-Joe“ hat versucht, die Baumaschine im Internet zu verkaufen. Vergeblich. Auch dem historischen Museum in Belgrad hat er den Bagger angeboten. „Die wollten ihn aber nur umsonst“, klagt der Rentner, der von 200 Euro in einer kleinen Wohnung mit seinem Papagei leben muss. Jetzt will er die Herstellerfirma ansprechen. Was hält er von den Veränderungen der letzten zehn Jahre? Er winkt ab und lacht. „Es wäre Zeit, mal wieder mit einem Bagger ins Parlament zu fahren“.
„Bagger-Joe“ Ljubisav Djokic stürmte vor zehn Jahren den Präsidentenpalast. Heute lebt er von umgerechnet 200 Euro Rente im Monat / Stephan Ozsvath, n-ost
Olga Lazarevic ist weniger pessimistisch. Sie arbeitet heute für eine deutsche Baufirma. Und sie freut sich über die „Freiheit – des Denkens, des Glaubens, der Bewegung“. Das sei unter Milosevic anders gewesen sagt sie, alles habe „unter einem Schleier gelegen“.
In einem Einkaufszentrum in „Novi Beograd“ sitzt Milja Jovanovic in einem Café vor einem gefüllten Aschenbecher. Vor zehn Jahren hat die Mitbegründerin der Studentenorganisation „Otpor“ (Widerstand) die Demonstrationen gegen Milosevic mit organisiert. Sie ist nicht zufrieden mit den Veränderungen seit dem Sturz des Diktators. „Das war eine Erhebung, keine Revolution“, sagt die energische Serbin im Rückblick und zündet sich eine neue Zigarette an. „Dass Otpor so einen großen Anteil daran hatte, das macht mich heute aber noch stolz“.
Kritik an Einmischung aus Brüssel
Viele ihrer ehemaligen Weggefährten sind heute in der Regierung, als Staatssekretäre oder Botschafter. „Aber“, räumt sie ein, „die Art, wie Politik hier funktioniert, hat sich nicht verändert“. Sie nennt die Diffamierungen, denen „Otpor“ ausgesetzt war als vom Ausland, der CIA, gesteuerte Organisation. „Das hat mich wahnsinnig geärgert“. Und sie erinnert an den Mord von Zoran Djindjic vor siebeneinhalb Jahren, dem pro-westlichen Ministerpräsidenten, durch Angehörige des Geheimdienstes. „Er war wirklich ein Reformer“. Dass Serbien heute in die EU strebt, akzeptiert sie widerwillig. „Es ist wahrscheinlich der einzige Weg, etwas gegen die Korruption hier zu unternehmen“, sagt sie. Aber sie ärgere, dass sich Brüssel „in die Staaten und das Leben der Menschen einmischt“. Den aktuellen Präsidenten Boris Tadic kennt sie persönlich, „eigentlich ist er einer von uns“, betont sie. „Ich weiß aber nicht, was er will“. Die Unabhängigkeit des Kosovo rät sie zu akzeptieren. „Weg damit, damit wir uns den wahren Problemen widmen können“.
Viele fürchten die Globalisierung
Nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt, direkt neben der Beogradska Arena, in der vor zwei Jahren der „Eurovision Song Contest“ ausgetragen wurde, wohnt Ognjen Pribicevic. Vor zehn Jahren war er kommunistischer Studentenführer – in Opposition zu Milosevic. Bis vor einem Jahr war der Mittvierziger Botschafter Serbiens in Berlin. „Unser größter Fehler damals war, dass wir nicht sofort den Geheimdienst aufgelöst haben“, sagt der schmale Diplomat. Die Oppositionsbewegung sei zu zerstritten gewesen, erklärt er. Es werde noch mindestens eine Generation dauern, „bis sich der politische Mainstream in Serbien verändert“, glaubt der Vater eines vierjährigen Sohnes, dessen Spielzeug-Dinosaurier im Wohnzimmer verteilt sind. „Die einzige Chance ist die Mitgliedschaft in der EU“, weil nur sie den Rahmen für das Land verändere, glaubt Pribicevic. Leider seien viele Serben rückwärtsgewandt und hätten Angst vor einer globalisierten Welt, beklagt er. Es übersteige ihren Horizont, dass Veränderungen eben langsam passieren. „Das haben auch wir damals lernen müssen“.
Grande Dame der serbischen Demokratiebewegung
Zwischen den teuren Auslagen der Knez Mihajlova, der Fußgängerzone im Zentrum, sitzt Sonja Biserko und nippt an ihrem Kaffee. Die 62-Jährige ist die Grande Dame der serbischen Demokratiebewegung. Die Präsidentin des serbischen Helsinki-Komitees ist deutlich skeptischer. Sie glaubt, dass der Geist von Slobodan Milosevic immer noch lebendig ist. Zwar habe es Veränderungen gegeben – die Armee sei von den schlimmsten Anführern gesäubert worden. Dies vor allem wegen der Partnerschaft mit der Nato. Einer der schlimmsten Kriegsverbrecher, Radovan Karadzic, der ehemalige Führer der bosnischen Serben, steht heute als Angeklagter vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Aber vor allem ideologisch gebe es einen roten Faden, sagt die ehemalige serbische Diplomatin. „Vojislav Kostunica hat die gleiche Politik fortgesetzt – nur mit diplomatischen Mitteln.“ Und auch der aktuelle Präsident Boris Tadic „habe seine Grenzen“. Sie glaubt, dass es bis heute in der serbischen Elite Leute gibt, die bewusst die Grenzfragen im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina offen halten möchten. „Sie hassen die EU, sie wollen nur das Geld, um ihr politisches Überleben zu sichern“. Sie verfolgten den geheimen Plan, Bosnien zu teilen. Der Ministerpräsident der serbischen Teilrepublik in Bosnien, Milorad Dodik, droht seit Jahren mit einer Abspaltung der Republika Srpska. „Deshalb liefern sie auch Mladic nicht an Den Haag aus, solange sie glauben, mit der EU spielen zu können“. Ratko Mladic wird für das Massaker an etwa 8000 Muslimen im bosnischen Srebrenica verantwortlich gemacht. Der EU-Kandidatenstatus sei deshalb gut für Serbien, denn dann könne Brüssel mehr mitreden.