Russland

Kein Geld mehr für ehemalige NS-Zwangsarbeiter

Ihre winzige Wohnung im Süden von Moskau verlässt die 84-jährige Aldona Walynski kaum. Vor 20 Jahren ist sie nach einer Augenkrankheit erblindet. Sie hat viel Zeit, um an die Vergangenheit zu denken: An einem Frühlingstag im Jahr 1943 wurde sie aus dem von den Nazis besetzten Weißrussland nach Deutschland deportiert, um Zwangsarbeit zu leisten. Über zwei Jahre war sie eine von über 20 Millionen Menschen, die in Deutschland in Fabriken, Bergwerken oder auf Feldern zur Arbeit gezwungen wurden. Aldona Walynski wurde zunächst als Magd zu einer Familie im heutigen  Brandenburg gebracht, dann in ein Lager gesteckt und später zur Zwangsarbeit am Kölner Flughafen abgestellt.

„Als ich nach dem Krieg in die Sowjetunion zurückkehrte, dachte ich, mein Martyrium sei vorbei. Aber wir ehemaligen Zwangsarbeiter wurden von unserer eigenen Führung wie Staatsfeinde behandelt“, sagt die alte Frau. Jahrelang bekam sie keinen Pass, stand unter Aufsicht des Inlandsgeheimdienstes und durfte nur in bestimmten Berufen arbeiten – eine Universitätsausbildung war verboten. Männliche ehemalige Zwangsarbeiter wurden zurück in der Heimat oft jahrelang zur Fabrikarbeit gezwungen.

„Alle, die für das faschistische Deutschland gearbeitet haben, galten in der Sowjetunion als Volksverräter“, erklärt Jelisaweta Dschirikowa von Sostradanie, einer russischen staatsunabhängigen Stiftung. Die Organisation leistet im Moskauer Gebiet nicht nur Opfern der Stalin-Repressionen medizinische und soziale Hilfe, sondern auch den ehemaligen NS-Zwangsarbeitern. „Sie sind im gewissen Sinne ebenfalls Opfer der Stalin-Diktatur“, sagt sie.

„Im heutigen Russland leben die meisten ehemaligen Zwangsarbeiter isoliert und in Armut“, so Dischirikowa. Da sie nicht als Teilnehmer des Krieges gelten, bekommen sie viel weniger Rente als Kriegsveteranen. Auch ihr Anspruch auf medizinische Hilfe ist geringer. „In der russischen Gesellschaft haben Opfer keinen Platz – man schaut nur auf Helden“, sagt Dschirikowa.

Der russische Staat steht nun kurz davor, den ehemaligen Zwangsarbeiter einen weiteren Stoß zu versetzen. Fast 30 humanitäre Projekte in Russland, die über die deutsche staatliche Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) finanziert werden, stehen vor dem Aus. Der russische Staat hat das Mandat seiner eigenen Stiftung „Verständigung und Versöhnung“, die vor 16 Jahren als Partner der deutschen Stiftung gegründet wurde, seit Monaten nicht verlängert. Das staatsunabhängige russische Nachrichtenmagazin „Russki Newsweek“ berichtet, die Schließung stehe unmittelbar bevor – aus finanziellen und bürokratischen Gründen: Der russische Staat wolle nicht mehr für die Personal- und Mietkosten aufkommen. Allein 2010 hat die Stiftung umgerechnet 130.000 Euro Mietschulden für die Moskauer Büroräume angehäuft.

„Wir hatten die Zusage, dass der russische Staat die Basisfinanzierung der Stiftung übernimmt“, sagt Franka Kühn von „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. „Aber auf russischer Seite fühlt sich nun keiner zuständig – aber vielleicht will sich auch keiner zuständig fühlen.“

Die ursprüngliche Aufgabe der russischen Stiftung war es, vor Ort die deutschen Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter und andere Opfer des Nationalsozialismus auszuzahlen. Seit dem Auslaufen der Zahlungen im Jahr 2007 organisierte die russische Stiftung mit Geldern aus Deutschland weitere soziale Folgeprojekte für ehemalige Zwangsarbeiter und andere russische Opfer des Nationalsozialismus. „Die Stiftung ist für die alten Menschen zu einem sozialen Treffpunkt geworden“, sagt Jens Siegert, Leiter des Moskauer Büros der Heinrich Böll-Stiftung. „Ich kann das ethische Moment nicht verstehen, den alten, oft kranken Menschen, die schon so viel gelitten haben, das wegzunehmen – das ist ja kein Projekt für die Ewigkeit.“ Siegert fürchtet, dass die russische Regierung dagegen wäre, wenn die Projekte von russischen Nichtregierungsorganisationen fortgeführt würden. Denn bisher liefen alle Hilfsprogramme auf zwischenstaatlicher Ebene.

In Deutschland stauen sich bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ unterdessen bereits 300.000 Euro, die für russische Opfer des Nationalsozialismus bestimmt sind. Aber wegen des unklaren Status kann das Geld nicht nach Russland überwiesen werden. Ein Brief der Stiftung an die russische Regierung blieb bisher unbeantwortet.


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