Angst vor der Stromflut
Es ist nur eine Frage der Zeit. Dann droht Polen und Tschechien wieder die „Stromflut“. Der Vergleich stammt vom EU-Kommissar Günther Oettinger: „Das ist ähnlich wie beim Hochwasser“, erklärte Oettinger einst das Phänomen, dass sich Strom „ungefragt“ seinen Weg bahnt: Sobald die landeseigenen Netze überlastet sind, fließt er durch die benachbarten Netze – in Polen oder Tschechien.
So etwa auch Ende Februar: Über das tschechische Hochspannungsnetz wälzten sich 2.000 MW „deutsche“ Elektroenergie. Normal sind 1.000 MW. Der tschechische Netzbetreiber, die staatlich kontrollierte CEPS, musste alle Anstrengung aufbringen, um einen Kollaps der Leitungen zu verhindern. „Das Sicherheitskriterium war über mehrere Stunden nicht erfüllt“, unterstreicht CEPS-Vorstand Miroslav Vrba den Ernst der Lage. Dieses Kriterium soll gewährleisten, dass der Ausfall einer Leitung oder eines Transformators nicht auf andere Netzanlagen übergreift und so eine Kettenreaktion auslöst.
Dabei hatte CEPS Glück, denn im Nordosten Deutschlands herrschte an jenem Sonntag Flaute. Gut 11.000 MW Windkraft sind dort inzwischen installiert. Bei starkem Wind erzeugen die Anlagen einen Energiefluss, der schon länger über Polen und Tschechien nach Süden transportiert wird.
Immer mehr Krisenfälle
Doch mit der Abschaltung von acht deutschen Atomkraftwerken vor einem Jahr hat sich die Lage verschärft. Die Frequenz der Krisenfälle ist seitdem stark gestiegen und hält manchmal tagelang an, heißt es unisono bei CEPS und dem polnischen Netzbetreiber PSE Operator (PSE-O). Der im Süden Deutschlands fehlende Strom muss durch Kapazitäten aus anderen Teilen der Republik ersetzt werden, die größtenteils im Nordosten liegen. Doch die bestehenden Leitungen von Nordost nach Süd sind dafür nicht ausgelegt und der Bau neuer Trassen kommt nur schleppend voran. Also nimmt der Strom den Umweg des geringsten Widerstands – über Polen und Tschechien.
Das ist üblich und durch internationale Verträge abgesichert, doch die Nachbarn im Osten sind immer weniger gewillt, mit ihren Netzen für deutsche Versäumnisse gerade stehen zu müssen. Um eine Überlastung zu vermeiden, steuern die Netzbetreiber gegen. Durch das Drosseln und Anfahren von Kraftwerksleistungen, dem so genannten Redispatch, wird der Stromfluss umverteilt. Das verursacht aber Kosten, die letztlich polnische und tschechische Verbraucher tragen müssen.
Teurer Atomstrom aus Tschechien und Frankreich
Deshalb zieht Polen nun die Reißleine. „Im Zuge der Modernisierung der Umspannwerke in Krajnik und Mikulow planen wir den Einbau von Phasenschiebern“, erklärt PSE-O-Sprecher Slawomir Smoktunowicz. In Krajnik und Mikulow enden die Kuppelleitungen aus dem brandenburgischen Vierraden und dem sächsischen Hagenwerder. Die Vorbereitungen sind in vollem Gange.
Mit dieser Spezialform eines Transformators lässt sich der Stromfluss je nach Bedarf hoch oder runter regeln. Diese Querregler sind nicht billig, sie haben eine Abschreibung von 40 Jahren. Und sie würden den parallel geplanten Ausbau der Kuppelleitung Vierraden-Krajnik ad absurdum führen. Smoktunowicz nennt 2014 als Jahr der Inbetriebnahme.
„Darüber wird noch verhandelt“, reagiert Volker Kamm zurückhaltend auf die polnischen Pläne. Der Sprecher von 50hertz, dem Betreiber des angrenzenden ostdeutschen Netzes, hofft, die Polen letztlich zu überzeugen. Das ist bitter nötig. Kommen die Phasenschieber, würde das den Druck auf das deutsche Netz erhöhen. Um Überlastungen zu vermeiden, wird schon heute vermehrt Energie aus erneuerbaren Quellen vom Strom genommen, obwohl diese Kapazitäten erst zuletzt abgeschaltet werden dürfen. 2011 war dies laut 50hertz bereits an 46 Tagen im Jahr so, nach nur sechs Tagen ein Jahr zuvor. „Das ist klimapolitischer und volkswirtschaftlicher Unsinn“, wettert Kamm. Der dann fehlende, öffentlich gestützte Strom aus erneuerbaren Energien müsste in Süddeutschland teuer durch unpopulären Atomstrom aus Tschechien und Frankreich ersetzt werden.
Das dürfte ein Grund für die Zurückhaltung Prags bei dem Thema sein. Premierminister Petr Necas hatte Phasenschieber kürzlich in Berlin sogar als „nicht adäquate“ Lösung abgehakt. Das Land exportiert jedes Jahr mehr Energie. 2011 waren es über 27 Terrawattstunden, mehr als ein Drittel davon floss nach Deutschland. Und mit dem geplanten Ausbau des AKW Temelin könnte der Export weiter steigen. Dafür kann Tschechien keinen Zwist mit dem deutschen Nachbarn gebrauchen.
Insofern passt die polnische Initiative ins Konzept. „Der Einbau eines Phasenschiebers an der deutsch-polnischen Grenze schützt auch den polnisch-tschechischen Übergang“, bestätigt CEPS-Vorstand Vrba. Denn während sich Tschechien an der eigenen Grenze zu Deutschland den Strom mit einer Kette von Kohlekraftwerken vom Leibe hält, dringt er über den polnischen Umweg ungehindert ins Land. Wie auch immer das Ringen im Stromnetz ausgeht, in einem sind sich alle drei benachbarten Netzbetreiber einig: Deutschland muss seine Hausaufgaben machen und den geplanten Bau neuer Leitungen zügig umsetzen.