Russland

Des Zaren neue Kleider

Sie strömen geradezu in die Wahllokale, die vor allem in den Großstädten von Wahlbeobachtern beinahe überfüllt sind. Die Russen wählen heute ihren Präsidenten. Und Wladimir Putin wird Geschichte schreiben. Denn die Rückkehr in den Kreml steht fest, keinem Herrscher vor ihm war das gelungen. Die Umfragen sehen den Noch-Premier bei bis zu 65 Prozent aller Stimmen. Eine Frage bleibt dennoch: Schafft es der Mächtige gleich im ersten Wahlgang?

Als Moskau schlafen geht, ist Pewek schon auf den Beinen. Pewek, das eigentlich Peekin heißt, auf Tschuktschisch, der Sprache der Indigenen auf Tschukotka, dieser fernöstlichen Halbinsel am Nordpolarmeer. In Pewek ist es längst Morgen, in der fernen Hauptstadt gerade Mitternacht, 7.000 Kilometer liegen zwischen den beiden Orten. Zwei Wahlurnen stehen in der Sowjetstraße 22 und drei Wahlkabinen. Ein Polizist läuft zwischen ihnen hin und her, ein alter Mann rückt seine Mütze zurecht, bevor er den Wahlzettel in die halbdurchsichtige Urne wirft, zieht seine Handschuhe wieder an. Draußen sind -35 Grad. Es ist ein Kommen und Gehen in Pewek, dieser 4.000-Einwohner Stadt, der nördlichsten in Russland. Die Tschukotka-Bewohner sind die ersten im größten Land der Erde, die ihre Stimme für einen neuen Präsidenten abgeben. Er wird ein alter sein: Wladimir Putin.

110 Millionen Wahlberechtigte, neun Zeitzonen, 96.000 Wahllokale, 450.000 Sicherheitskräfte, Wahlbeteiligung bei 30 Prozent bereits in den Morgenstunden. Es herrscht eine angespannte Stimmung im Land, das seinen neuen Staatschef seit spätestens September vergangenen Jahres auf dem Posten weiß. Damals hatte der Noch-Präsident Dmitri Medwedew in einer demütigen, und auch einer gedemütigten Geste den Ämtertausch angedient – und die Russen „beleidigt“. So sehen das viele heute und gehen deshalb auf die Straße, strömen geradezu in die Wahllokale, um mit dem System Putin abzurechnen. Ihre Hoffnung ist klein, aber sie ist da. Sie haben die imitierte Demokratie satt, die imitierten Wahlen.

„Auch wenn wir keine Alternative haben, so haben wir wenigstens die Wahl, hierher zu kommen und zu sagen: So nicht mehr!“, sagt die 26-jährige Vera, die ihren Wahlzettel ungültig gemacht hat. Sie setzt auf einen zweiten Wahlgang. Wie ihr Großvater Kusma, der seine Stimme dem Kommunisten Gennadi Sjuganow gegeben hat. „Ein weiterer Wahlgang zeigt unserem Zaren vielleicht, dass er nicht allmächtig ist“, sagt der Rentner trotzig.

Das Gymnasium 1543 im Südwesten Moskaus hat sich in das Wahllokal 2705 verwandelt. Die Menschen stehen Schlange am Eingang und vor den Wahlkabinen. Ein altes Mütterchen schaut sich noch die Lebensläufe der fünf Kandidaten an, ist erstaunt, dass Putin nur eine 70-Quadratmeterwohnung in St. Petersburg besitzen soll, verwirrt, dass der Milliardär Michail Prochorow nicht verheiratet ist. „Es passiert ja gerade so viel bei uns, da weiß man gar nicht, was man machen soll“, sagt die Frau und rückt mit den Nase näher an die Plakate heran.

Wahlbeobachter melden derweil eine Vielzahl an Manipulationsversuchen. Es gebe genauso viele Verletzungen wie bei der von Fälschungsvorwürfen überschatteten Parlamentswahl im vergangenen Dezember, teilt Russlands unabhängige Organisation „Golos“ (Stimme) noch während der Abstimmung mit. Mal stehen falsche Namen auf den Wahllisten, mal gibt es keine Wahlurnen in den Wahllokalen. Im Internet tauchen derweil Videos auf, die dokumentieren sollen, wie dreist gefälscht wird: Vor allem werfen die Menschen mehrere Listen ein.

„Es wird agitiert, getuschelt und immer wieder die Sicht auf die Urnen versperrt“, beklagt sich der 20-jährige Anton Owtscharow. Er hatte sich als freiwilliger Wahlbeobachter gemeldet, wie Zehntausende seiner Landsleute. Nun wandert er im Nordosten Moskau von der einer Urne zur anderen und filmt das Geschehen.

Auch zwei Webkameras an der Wand nehmen alles auf. Jedes Wahllokal hat Putin mit den Geräten ausstatten lassen, die die Abstimmung, mal in einer Schule, mal in einer Privatwohnung live ins Internet übertragen. „Zur größtmöglichen Transparenz“, damit niemand der Regierung vorwerfen könne, die Wahlen seien manipuliert worden. Es dient lediglich der Beruhigung. Die unscharfen Webbilder liefern zwar unterhaltsame Bilder, aus Wladiwostok und aus Krasnojarsk, aus dem Dorf Nickel an der norwegischen Grenze und auch vom Ozean-Prospekt in Kaliningrad. Doch sie zeigen nicht, was neben den Wahlurnen passiert, auch nicht, was geschieht, wenn die Kameras aus sind.

Die Hauptstadt hat sich längst in eine Hochsicherheitszone verwandelt, mit abgesperrten Straßen, gepanzerten Militärfahrzeugen, Spezialeinheiten der Polizei im Zentrum. Es ist eine zynische Demonstration Putinscher Stabilität. Das Städtchen Pewek merkt nichts davon. Es ist ohnehin längst Nacht auf Tschukotka.

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