Ungarn

Kino ist mehr als Filmezeigen

Welcher Filmliebhaber in Ungarn kennt sie nicht: ungarische Kultfilme wie Sátántangó von Regisseur Béla Tarr, Kontroll von Antal Nimród, Fekete kefe (Schwarze Bürste) von Roland Vranik, Taxidermia von György Pálfi oder Delta von Kornél Mundruczó. Die fünf Streifen haben gemein, dass sie der Kategorie Arthouse-Film zugerechnet und in so genannten Programmkinos gespielt werden. Und von diesen gibt es eine Menge in Budapest, insgesamt sind es 13.

Der Präsident der Budapester Programmkino-Vereinigung (Art-mozi Egyesület), Ferenc Port, bezeichnet Budapest geradewegs als „europäische Filmhochburg“. Port erklärt, dass bereits 1988 an einem Budapester Programmkino-Netzwerk gearbeitet wurde, also noch vor der politischen Wende 1989/90. Danach, Mitte der 1990er Jahre, sei es schließlich auf die 13 Filmkunstkinos angewachsen, die es heute noch gibt.

Vor allem in den 90er und Anfang der 2000er Jahre erlebten die Arthouse-Kinos in Budapest einen regelrechten Boom, durchschnittlich 800.000 Besucher pro Jahr konnten die 13 Kinos insgesamt verzeichnen. Im Jahr 2004 sei die Zahl sogar auf über 900.000 geklettert, berichtet Port. Diesem Höhenflug folgte allerdings ein stetiger Rückgang, der bis heute anhält. In den vergangenen Jahren fielen die Zahlen um etwa 30 Prozent, 2008 beispielsweise kamen nur noch 620.000 Gäste.

Die Konkurrenz der Multiplex-Kinos

Für die rückläufigen Besucherzahlen sieht Port mehrere Gründe. Zum einen weist er auf das „Überangebot an Multiplex-Kinos“ hin. Zur Veranschaulichung: In den Budapester Multiplex-Kinos gibt es 130 Kinoräume, sehr viele für eine Stadt mit etwa 1,6 Millionen Einwohnern.

Das Überangebot schlägt sich freilich auch auf die Auslastung der Multiplex-Kinos selbst nieder. Diese liegt bei lediglich zwölf Prozent. Warum das ein Problem für die Programmkinos ist, erklärt Port so: „Wegen der geringen Auslastung brauchen die Multiplex-Kinos jeden Film wie einen Bissen Brot.“ Daher laufen in den kommerziellen Kinos seit einigen Jahren auch Arthouse-Filme.

Ein weiterer Grund für die sinkenden Publikumszahlen seien die Filme, die als Arthouse-Filme eingestuft würden, sagt Port. Seit zwei Jahren würden bevorzugt „esoterische, Experimental- und Dokumentarfilme“ in diese Kategorie fallen, publikumswirksame Filme von Woody Allen oder den Gebrüdern Coen dagegen nicht. Dies bedeute, dass solche Produktionen in den Programmkinos nicht gezeigt werden können, in denen ausschließlich Arthouse-Filme erlaubt sind.

Downloads statt Kinobesuch

Und schließlich sieht Port auch im Internet eine Bedrohung für die Budapester Kino-Kultur. Die jugendlichen Intellektuellen fänden es normal, Arthouse-Filme aus dem Internet herunterzuladen.

Ungeachtet dieser Entwicklungen gibt sich Ferenc Port aber gelassen. Schließlich herrscht in den Programmkinos nach wie vor reger Betrieb. Eingerechnet der 35 bis 40 Filmwochen laufen in den Filmkunstkinos 300 bis 400 Filme im Jahr. „Die Programmkinoszene pulsiert also noch immer.“

Kreativität gegen sinkende Besucherzahlen

Der Direktor des mit fünf Kinoräumen (421 Plätzen) größten Budapester Programmkinos Művész (Künstler), Márton Szabó, knüpft hier an: „Einfach Filme zu zeigen, reicht in einem Filmkunstkino schlicht und einfach nicht mehr.“ Szabó sitzt in einem kleinen, schummrigen Büro, an den Wänden prangen Filmplakate, auf dem Boden liegen Berge von DVDs herum. Er ist gerade dabei, sich einen spanischen Streifen anzusehen, der im Rahmen einer Filmwoche möglicherweise ins Programm kommen wird.

Neben dem herkömmlichen Filmbetrieb gibt es im Művész jedes Jahr eine Reihe internationaler Filmwochen, unter anderem deutsche, französische, spanische und brasilianische, sowie Filmfestivals wie das Schwulen- und Lesbenfestival. „Außerdem veranstalten wir immer wieder lateinamerikanische Tanzabende im geräumigen Vorraum des Kinos“, erzählt Szabó. Die meisten ausländischen Filme laufen im Művész wie in den anderen Budapester Arthouse-Kinos im Original mit ungarischen Untertiteln.

Trabi-Installation und lateinamerikanische Tänze: Das Művész


Für jede wichtige Premiere fertigt das Personal des Művész eigens eine Installation an. So überrascht den Kinobesucher ein ausgemusterter blauer Trabi, der einst den Filmstart von „Das Leben ist ein Wunder“ des serbischen Regisseurs Emir Kusturica illustrierte. Doch nicht nur die Installationen und kreativen Designideen machen das Művész zu einem besonderen Ort, das Kino beherbergt außerdem einen Buchladen sowie ein Holz- und Glasperlengeschäft.

Obwohl das Művész ein Stammpublikum hat, sind die Besucherzahlen in den vergangenen Jahren auch hier eingebrochen. Während Anfang der 2000er Jahre durchschnittlich 240.000 Besucher pro Jahr kamen, waren es 2008 nur noch rund 140.000. „Trotz dieses Besucherschwunds ist das Művész keine Kompromisse in Richtung einer Kommerzialisierung eingegangen“, sagt Szabó. Seinem Stammpublikum bescheinigt er „Empathie, Sensibilität, Toleranz und ein hohes Bildungsniveau“. Es sei auch für „provokative und höchst anspruchsvolle Filme“ wie etwa SALO von Regisseur Pier Paolo Pasolini oder den mehr als siebenstündigen Streifen Sátántangó von Béla Tarr offen.

Die rund 50 bis 60 Filme, die pro Jahr gezeigt werden, sind im Durchschnitt acht Monate im Programm. „In den 90er Jahren“, sagt Szabó, „wäre dies eine Schande gewesen.“ Damals seien die Filme zwischen einem und eineinhalb Jahren gelaufen.

Die Einnahmen des Művész kommen aus dem Kartenverkauf, den Zuschüssen des Kino-Betreibers Budapest Film, staatlichen Zuwendungen sowie Geldern, die dem Filmspielhaus aus der Mitgliedschaft im europaweiten Kinonetzwerk Europa Cinemas zufließen.

Der Staat wird zunehmend knauseriger

Was die staatlichen Förderungen betrifft, so gibt es allerdings immer weniger Geld. Dies bestätigt die Leiterin des Fachkollegiums für Filmvertrieb bei der "Öffentlichen Stiftung für Ungarisches Kinobild", Veronika Bakonyi. Das Fachkollegium hat die Aufgabe, die staatlichen Fördergelder an die Arthouse-Kinos in ganz Ungarn zu verteilen.

Bakonyi erklärt, dass der Förderrahmen für die Programmkinos von rund einer Milliarde Forint im Jahr 2004 auf rund die Hälfte gesunken sei. In Kombination mit dem dramatischen Rückgang der Besucherzahlen ein finanzieller Aderlass.

Die Entdeckung des Marketings: Programmkino Cirko-Gejzír

In argen Geldnöten befand sich vor einigen Jahren auch das Programmkino Cirko-Gejzír, das mit seinen zwei winzigen Kinoräumen als kleinstes europäisches Kino gilt. Auch hierher kamen immer weniger Gäste. Eine Trendwende schaffte das Kino schließlich mit einer innovativen Vermarktungskampagne. Eine Reihe ungarischer Celebrities konnte dafür gewonnen werden, das Cirko-Gejzír zu bewerben. Das Ergebnis lässt sich sehen: In der Kinosaison 2007/2008 gab es einen Besucherzuwachs von rund 33 Prozent.

Programmkino Cirko-Gejzí in Budapest (P.Bognar)

Über die Auswahl der Filme entscheidet in der Regel die Kinoleitung. Eine Mitarbeiterin des Kinos besucht jedes Jahr 15 bis 20 internationale Filmfestivals, auf denen sie sich zwischen 400 und 500 Filme ansieht. Aus diesen wählt die Kinoleitung, die sich auch mit Filmvertrieb beschäftigt, etwa fünfzehn Filme aus, um sie in Ungarn exklusiv zu zeigen. Zwei bis drei Filme sind dabei stets Homosexuellenstreifen. Seit seinen Anfängen wendet sich das Cirko-Gejzír nämlich auch an die Budapester Homosexuellenszene.

Der Eigentümer des Cirko-Gejzír ist Péter Balassa, der auch Miteigentümer eines weiteren Programmkinos, des KINO, ist. Die beiden Kinos befinden sich nur wenige Meter voneinander entfernt.

Besser frühstücken im Kino KINO


„Entgegen seinem Namen ist das KINO kein gewöhnliches Kino“, sagt Balassa. Außer Film- gibt es hier Theatervorführungen, Lesungen, Jazzkonzerte und Videoinstallationen junger ungarischer Künstler. Im KINO kommen auch die Jüngsten auf ihre Kosten, vormittags stehen Kinderfilme und Puppentheatervorstellungen auf dem Programm. Und noch etwas: All jene, die morgens in Budapest ein nahrhaftes Frühstück suchen, sind im KINO an der richtigen Adresse. Dazu liegen deutschsprachige und internationale Zeitungen aus.

Doch zurück zum Film: Im diesjährigen Programm des KINO finden sich Prüfungsfilme junger israelischer Filmstudenten ebenso wie ein Filmfestival zum Thema Sexualität und Film und mexikanische Filmwochen. „Für die Mexiko-Woche haben wir auch ein Begleitprogramm geplant. Alles, was mit Mexiko zu tun hat, angefangen vom Essen über die Musik bis hin zum Tanz“, sagt Balassa.

Mit der Wende kamen die Filmkunstkinos

Die Idee, Arthouse-Kinos in Budapest zu etablieren, gab es schon in den 1960er Jahren. Das große Vorbild sei Paris gewesen, erzählt der Filmhistoriker und Schriftsteller László Kelecsényi, ein bebrillter Mittsechziger, in den pompösen Räumlichkeiten des vielleicht schönsten Filmspielhauses der Stadt, dem Uránia. Die Kommunisten erstickten das Vorhaben jedoch im Keim. Es gehe doch nicht, so ihr Argument, dass sich ein Teil der Kinogänger „aristrikatisiere“.

Erst mit der politischen Wende 1989/90 fielen die letzten Hindernisse. „Seit damals sind die Filmkunstkinos zu einem integralen Bestandteil des kulturellen Lebens in Budapest geworden“, findet Kelecsényi.


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