"Generation Putin" gegen Putin
Sie sind unter Putin groß geworden, so frei wie kaum eine Generation in Russland vor ihnen. Nun aber proben die 20-Jährigen den Widerstand gegen die Staatsspitze, fordern ein „Russland ohne Putin“. Wer sind die jungen Wilden, und was treibt sie an?
DER "NORMALE JUNGE"
Es war die Neugier. Der Vergleich. Zwischen dem, was nach den Parlamentswahlen am 4. Dezember im Fernsehen läuft, und dem Geschehen auf der Straße. Also machte sich Anton Owtscharow auf ins Zentrum der russischen Hauptstadt. Allein, und nur, um zu gucken. „Ich war ein ganz normaler Junge, der Propaganda des gelenkten Staatsfernsehens erlegen, das einem glaubhaft versichert, die Jungs an der Macht seien die Guten“, sagt Anton, der Marketing-Student.
Er war ohnehin schon ein wenig verunsichert. Stimmte das denn alles, was die Staatsspitze einem weismachen wollte? Dass alles geregelt sei im Land, dass sie jede Anstrengung unternehme, damit es dem Volk gut gehe?
Es waren Kleinigkeiten, die den schmächtigen Jungen ins Wanken brachten: Unfälle vor der Haustür, die unaufgeklärt blieben, die barsche Behandlung der Großmutter durch die Polizei, seine Reise nach Ulan Ude, noch hinterm Baikalsee. Das Fernsehen lieferte Bilder von einer heilen Welt, die Realität zeigte marode Straßen.
Heute spricht der 20-Jährige von einem „Fernseh-Russland“ und einem „realen Russland“. In einem Moskauer Café diskutiert er mit anderen Protestlern, wie sie den Rest der Bevölkerung davon überzeugen könnten, dass Russland Veränderungen brauche. Es sind nur wenige gekommen, „Werkstatt“ nennen sie ihr Treffen im Kellerräumchen mit dem programmatischen Namen „Zavtra“ (Morgen). Anton will Busse und Trams mit weißen Bändchen versehen, dem Symbol der Anti-Regierungsbewegung. „Ich will die Augen nicht mehr verschließen“, sagt er und muss weiter – Flyer verteilen.
DAS NACKTE ÜBERLEBEN
Für das Treffen mit Gleichgesinnten ist sie in die grauen „Walenki“ geschlüpft, die traditionellen russischen Filzstiefel. Doch Olga Kuratschowa stand auch schon barfuß im Schnee, hat gegen Putin protestiert. Nackt. „Der Staat hat uns bei der Parlamentswahl die Stimme gestohlen, unsere Bürgerrechte aber kann er uns nicht nehmen“, sagt die 25-Jährige, die in den vergangenen Wochen so etwas wie einen „Umbruch des Bewusstseins“ erlebt hat.
Alles steht seitdem Kopf. Ihre Freunde sieht sie seltener, dafür hat sie neue kennengelernt, sie verbringt Stunden auf der Polizeiwache, investiert ihre Zeit und ihr Geld in den Protest, verpasst kaum eine Antiregierungsaktion in der russischen Hauptstadt. „Früher wollte ich auswandern“, sagt sie. „Jetzt aber will ich Moskau nicht einmal für ein paar Tage verlassen. Das Land ändert sich. Und wir selbst sind es, die es verändern“, sagt sie und schüttelt den Kopf über den angeblichen Anschlag auf Putin. „Es wirkt wie ein Comic, mit dem sich die Oberen lächerlich machen.“
Noch vor drei Monaten waren ihr die Gedanken fremd, allein etwas verändern zu können. Über das Putin-System – „in seinen Grundzügen zur Diktatur neigend“ – habe sie zwar schon lange heftig debattiert. In der Küche, mit Familie, Freunden. Aber auf der Straße?
Dann kamen der 4. Dezember, die Parlamentswahlen, der 5. Dezember, ihre erste Demo, der 6. Dezember, die erste Festnahme. Die Journalistin, die jetzt im Tscheschichen Kulturzentrum in Moskau arbeitet, blüht regelrecht auf, wenn sie über ihr politisches Erwachen spricht. „Wir wissen nicht, was man tun kann, aber wir wissen, dass wir etwas tun müssen. Wir proben die Zivilgesellschaft.“ Ein Zurück gibt es für die 25-Jährige nicht mehr. „Es wäre Verrat an mir selbst.“
DER "PROVINZLER"
Seinen großen Erfolg hätte er fast verpasst. Im Zentrum von Uljanowsk standen Anfang Dezember 1.500 Menschen auf der Straße und forderten ein „Russland ohne Putin“. Das hatte es hier an der Wolga, knapp 850 Kilometer östlich von Moskau, noch nie gegeben. Wjatscheslaw Jemeljanow saß derweil auf der Polizeiwache und musste sich gegen den Verdacht des Extremismus wehren. Wieder einmal. Der 20-Jährige hatte die Anti-Regierungsdemo in der 600.000-Einwohner-Provinzstadt organisiert. „Man muss doch was tun.“ Die Polizei sah das anders und ließ den Studenten erst frei, als sich die Demonstranten langsam auf den Rückweg machten.
„Ich will soziale Gerechtigkeit“, sagt Wjatscheslaw, den alle nur bei seinem Kurznamen „Slawa“ rufen. Er zählt die kritischen Punkte auf: „Korruption, kaum Wohnraum, Beamtenwillkür“. Der junge Oppositionelle aus der Geburtsstadt Lenins fordert „einfach nur ein besseres Leben“.
Seit einem halben Jahr engagiert sich Slawa für „Jabloko“, die einzige unumstritten liberale Partei Russlands. Auf dem Bürgerforum in Uljanowsk hat er sich das runde weiß-rot-grüne „Jabloko“-Abzeichen ans Sakko-Revers geheftet. Das Arbeiterkind studiert Verwaltungswissenschaften – und weiß, dass er niemals Beamter wird. Aber auch kein Unternehmer. Dafür stehe er auf zu vielen Listen der Polizei. „Ich tue nichts Unrechtes, doch das Recht legen viele nach eigenem Gutdünken aus“, sagt er. Aber abhauen wie viele seiner Altersgenossen? „Hier an der Wolga bin ich zu Hause. Und hier will ich Veränderungen.“