Deutschland

Arbeitnehmerfreizügigkeit – Fluch oder Segen?

„Die Griechen wollen unser Geld“ – und die Polen unsere Jobs? Was sich in der Griechenlandkrise jüngst in deutschen Boulevardmedien abspielte, könnte sich schon bald mit Blick gen Osten wiederholen: Einmal mehr könnten Vorurteile und Ängste Überhand gewinnen. Denn in einem Jahr fallen in Europa weitere, entscheidende Begrenzungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit weg. Vom 1. Mai 2011 an dürfen Bürger aus den acht mittel- und osteuropäischen Staaten, die 2004 der EU beigetreten sind, auch in Deutschland ihre Arbeitskraft anbieten – uneingeschränkt.

Kritiker malen bereits ein Schreckensgemälde von Sozialdumping und steigender Erwerbslosigkeit an die Wand. „Da ist immer wieder der Schlachtruf ‚Die Polen kommen’ zu hören“, sagt der Arbeitsmarktexperte des DGB Nord, Helmut Uder. Diese „Stimmungsmache“ lehnt der Gewerkschafter ab, warnt aber: „In zahlreichen Branchen in Deutschland könnte das Lohnniveau sinken und sich das Sozialdumping verschärfen.“

Justas Paleckis kann seine Empörung nur schwer verbergen, wenn er von den Ängsten im Westen hört. „Wir bilden Hochqualifizierte für euch aus. Das ist doch die eigentliche Ungerechtigkeit!“ In seiner litauischen Heimat verlasse ein Drittel der Ärzte, Ingenieure und Piloten nach der Ausbildung das Land, rechnet der sozialdemokratische Europa-Parlamentarier vor. Tatsächlich hat die Bundesregierung zwar die von Brüssel erlaubten Übergangsregelungen ausgeschöpft und den deutschen Arbeitsmarkt gegen Zuwanderung aus Osteuropa bislang weitgehend abgeschottet. Fachkräfte aber dürfen ins Land. Und so endet der im Westen beschworene „Kampf um die besten Köpfe“ im Osten mit einem dramatischen „Braindrain“ – mit einer Abwanderung der Talentiertesten und am besten Ausgebildeten.
 
In einem sind sich Paleckis und Uder einig: „Schuld ist das dramatische Lohngefälle zwischen Ost und West“, sagt Uder. Die Weltwirtschaftskrise habe die Lage erneut verschärft, klagt Paleckis, der ein weiteres Ausbluten im Osten des Kontinents befürchtet. Europas Sozialdemokraten schlagen deshalb EU-weite, aber regional abgestufte Mindestlöhne vor.

Das sieht der deutsche Arbeitgeberverband BDA anders. Dort erhofft man sich vor allem eines vom grenzenlosen europäischen Arbeitsmarkt: eine neue Wachstumsdynamik. Der BDA verweist auf die Erfahrungen in anderen westeuropäischen Staaten: „Vor allem Großbritannien und Irland haben durch eine frühzeitige Öffnung profitiert.“

Beide Länder waren zusammen mit Schweden vorgeprescht und hatten die volle Freizügigkeit schon 2004 eingeführt. Und das durchaus mit Erfolg: Die Einwanderer trugen erheblich zum britischen Boom und zum irischen Wirtschaftswunder bei, die mit der EU-Erweiterung zusammenfielen. Seit der Weltfinanzkrise häufen sich allerdings die Klagen über soziale Verwerfungen. Boulevardblätter wie die Londoner „Sun“ warnen immer öfter vor „migrant crooks“, einwandernden Gangstern – ein Vorgeschmack auf das, was Deutschland im kommenden Jahr bevorstehen könnte.


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