Neonazis radikalisieren sich
Es war ein grausiger Fund: Als die Polizei den Kühlschrank öffnete, lagen darin der abgetrennte Kopf eines Menschen und eine Hand. In der Provinzstadt Pikaljowo östlich von St. Petersburg hatte sie das Versteck einer Neonazi-Gruppe durchsucht und zwei ihrer Mitglieder verhaftet. Die Leichenteile stammen offenbar von einem ehemaligen Mitglied der Gruppe „Nationalsozialismus/Weiße Macht“ (NS-WP), die auf ihrer Website behauptet, einen Abtrünnigen als „Feigling“ hingerichtet zu haben.
Die Gruppe NS/WP hatte in den vergangenen Monaten durch besonders brutale Morde auf sich aufmerksam gemacht. Im Dezember 2009 etwa stachen ihre Anhänger in St. Petersburg einen 25-jährigen Afrikaner mit 40 Messerstichen nieder.
Die Industriestadt Pikaljowo, von der aus sie operieren, kam im Juli 2009 international in die Schlagzeilen. Bürger der Stadt hatten nach der Stilllegung mehrerer Fabriken die Straßen blockiert. Wladimir Putin persönlich reiste an. Vor laufender Kamera verdonnerte er den Fabrikbesitzer und Oligarchen Oleg Deripaska dazu, den Betrieb wieder aufzunehmen. Pikaljowo war zum sozialen Unruheherd geworden – und das wollten sich Neonazis um die NS/WP offensichtlich zunutze machen.
Dabei greifen die Rechtsradikalen nicht nur Ausländer an, sondern zunehmend auch den Staat. Immer häufiger, erklärt Galina Koschewnikowa vom Moskauer Analyse-Zentrum „Sowa“ (Eule), seien Polizisten, Polizeiautos und Wehrämter Ziele von Anschlägen. Die Rechten hätten begriffen, dass es unrealistisch sei, alle Ausländer aus Russland zu vertreiben und strebten nun die „Destabilisierung der politischen Situation“ und eine „nationale Revolution“ an, so Koschewnikowa.
Schon im Dezember 2008 war neben dem Kopf eines ermordeten Tadschiken vor einem Moskauer Bezirksamt ein Bekennerschreiben aufgetaucht, in dem eine bis dahin unbekannte „Kampforganisation russischer Nationalisten“ den Beamten mit Gewalt drohte, sollten sie den Zuzug von Ausländern nach Russland nicht stoppen. Vier Jahre zuvor wurde der Völkerkunde-Professor Nikolai Girenko, der Gerichtsgutachten für den Prozess gegen die Skinhead-Gruppe „Schulz 88“ erstellte, in seiner Wohnung erschossen. Wegen dieser und anderer Mordtaten stehen derzeit 14 Mitglieder der Gruppen „Schulz 88“ und „Mad Crowd“ in St. Petersburg vor Gericht.
Zu den ideologischen Eckpfeilern der russischen Skinhead-Szene gehört die Grundannahme, im Kreml sitze ein vom Westen gesteuertes „Okkupationsregime“, das die Rohstoff-Ausbeutung Russlands organisiere. Schon die Oktoberrevolution sei eine „jüdische Verschwörung“ gegen das russische Imperium gewesen. Weil das Christentum durch den Juden Jesus „besudelt“ sei, orientieren sich russische Skinheads auf vorchristliche, heidnische Traditionen aus Russland und Deutschland.
Die Splittergruppe NS-WP, deren Website auf der Pazifik-Insel West-Samoa registriert ist, bemüht sich gar nicht erst, mit solchen Theorien um die einfachen Bürger zu werben. Auf ihrer Website erläutert sie eine menschenfeindliche Avantgarde-Theorie, derzufolge die Russen „eine Nation unterjochter Menschen und entarteter Slawen“ seien. Durch jahrzehntelange KGB-Unterdrückung eingeschüchtert, ließen sie sich nur von der Angst lenken. „Der Stärkere ist der Herr der Russen“, heißt es in dem Ideologie-Aufsatz. Das russische Volk interessiere sich nur „fürs Fressen“ und müsse deshalb von slawischen Kampfgruppen „befreit“ werden. Die NS-WP träumt von einem Umsturz durch kleine Terrorgruppen, und will dann selbst über das verängstigte Volk herrschen. So abstrus diese Theorien klingen mögen – gebildeteren Neonazis geben sie das nötige ideologische Rüstzeug für ihre Bluttaten.
Inzwischen allerdings gehen die Morde von Skinhead-Gruppen in Russland langsam zurück. Immer öfter würden die Täter vor Gericht gestellt, erklärt Rechtsextremismus-Expertin Koschewnikowa. So seien im vergangenen Jahr 71 Menschen bei rechtsradikalen Überfällen getötet und 333 verletzt worden. 2008 waren es noch 110 Tote und 487 Verletzte.
Im Februar dieses Jahres hatte die Polizei vier Neonazis in St. Petersburg festgenommen, darunter zwei Mitglieder der NS-WP. Ihnen werden nicht nur Morde an Gastarbeitern vorgeworfen, sondern auch Bombenanschläge auf Zugstrecken und auf Wohnungen von Ausländern.
Im gleichen Monat ging ein Prozess gegen die Neonazi-Gruppe „Weiße Wölfe“ zu Ende. Die Jung-Nazis, die ihre Gesichter während der Urteilsverkündung hinter Kapuzen versteckten, waren wegen Mordes an elf Gastarbeitern aus Zentralasien und Kalmykien angeklagt. Sechs Morde konnten die Ermittler den Jugendlichen, die heute zwischen 18 und 22 Jahren Jahre alt sind, nachweisen. Neun von ihnen wurden zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und 23 Jahren verurteilt, drei freigesprochen.
Ihr Anführer, der 18-jährige Alexej Dschawachischwili, der nun für sieben Jahre ins Arbeitslager muss, stammt aus einem alten georgischen Adelsgeschlecht. Er ist nicht der erste Nicht-Russe, der in Moskau eine Skinhead-Band führt. Vor zwei Jahren stand in Moskau eine Gruppe von Neonazis vor Gericht, die aus Hass gegen Ausländer 20 Menschen getötet hatte. Anführer Artur Ryno, ebenfalls 18 Jahre alt, war Ikonenmaler und stammte aus einer Familie von Tschuktschen, einem Volk mit asiatischen Gesichtszügen, das im russischen Fernen Osten lebt.
Die im Westen geläufige Vorstellung, russischer Nationalismus sei eine Angelegenheit russischstämmiger Extremisten, ist also kaum haltbar. Russische Neonazis öffnen ihre Reihen für Nicht-Russen – willkommen ist jeder, der ihre kruden Theorien mitträgt.