Putin schlägt heftige Kritik entgegen
Massenproteste in Kaliningrad haben die politische Debatte in Russland belebt. Der „gute Zar“ Putin steht ganz ungewohnt im Kreuzfeuer
(n-ost) – In Russlands Ostsee-Exklave Kaliningrad kocht der Volkszorn. Ende Januar demonstrierten 10.000 Menschen, darunter die Mitglieder aller oppositionellen Parteien – von Kommunisten, Schirinowski-Anhängern bis hin zu Liberalen, gegen die Erhöhung der KFZ-Steuer und der Betriebskosten für Wohnungen. Eine solch große Demonstration hatte es zuletzt im Januar 2005 gegeben, als Wladimir Putin die sozialen Vergünstigungen für Rentner und Schwerbehinderte streichen wollte. Damals bekam Putins Image als „guter Zar“ eine Delle. Die geplante Streichung der Vergünstigungen wurde wegen der Proteste teilweise zurückgenommen.
Etwas Ähnliches passiert jetzt nach den Protesten in Kaliningrad. Die Stimmung in der Bevölkerung ist angesichts der Finanzkrise angespannt. Das Wirtschaft ist nach Jahren steilen Wachstums 2009 um 8,5 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosenzahl liegt bei faktisch sechs Millionen. Die Familieneinkommen sind gefallen, Urlaubsreisen wurden gestrichen, der tägliche Einkaufszettel gekürzt. Doch weitere soziale Proteste kann der Kreml nicht gebrauchen.
So wunderte es niemanden, als letzte Woche die seit Januar geltende Preiserhöhung für die Pendlerzüge nach Moskau teilweise zurückgenommen wurde. Das Massenblatt Moskowski Komsomolez brachte die Rücknahme in Zusammenhang mit den Protesten und ätzte: „Das Syndrom von Kaliningrad: Die Macht hat Angst vor Massenprotesten der Passagiere“.
Doch das Beben von Kaliningrad reicht noch weiter. In einer Fernseh-Talkshow hörte man von Sergej Mironow, dem Vorsitzenden der eigentlich handzahmen Kreml-Partei „Gerechtes Russland“, überraschend kritische Töne an die Adresse von Ministerpräsident Wladimir Putin. „Wir sind nicht einverstanden mit den Anti-Krisen-Maßnahmen, die Wladimir Putin vorgeschlagen hat.“ Putin hatte Mironow immer als seinen Freund bezeichnet. Nun erklärte Mironow mit neuer Selbstsicherheit: „Dass ich Putin in allem unterstütze, ist eine veraltete Information.“
Auf die Äußerungen von Mironow, der als Vorsitzender des Föderationsrates formal der drittwichtigste Politiker in Russland ist, folgte ein Aufschrei in Putins konservativer Partei „Einiges Russland“, die 315 von 450 Duma-Abgeordneten stellt. Was Mironow über Putin gesagt habe, sei einfach unanständig, sagte ein Sprecher von „Einiges Russland“. Mironow müsse seinen Posten als Vorsitzender des Föderationsrats räumen. Mironow, der sich und seine Partei als „russische Sozialdemokratie“ zu profilieren versucht, entgegnete selbstbewusst, das „archaische Einparteiensystem“, das Putins Partei aufgebaut habe, „passt nicht in die neue Realität“.
Am Montag indes gaben die Parteiführer von „Einiges Russland“ und „Gerechtes Russland“, Boris Gryslow und Sergej Mironow, die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung bekannt. Darin bekennen sich die beiden Parteien dazu, den strategischen Kurs von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew zu unterstützen. Wie bekannt wurde, will „Einiges Russland“ nun im Gegenzug nicht weiter auf der Abberufung Mironows von seinem Posten als Vorsitzender des Föderationsrates bestehen.
Dass Russland mehr Demokratie brauche, mehr mit den Bürgern reden müsse und auf „Kommando-Politik“ verzichten sollte, predigt auch Präsident Dmitri Medwedew schon seit einiger Zeit. Das „Institut für zeitgenössische Entwicklung“, in dem Medwedew den Ehrenvorsitz führt, legte vergangene Woche ein Aufsehen erregendes Strategie-Papier vor: „Russland im 21. Jahrhundert“.
Das Institut fordert darin, die Parteien-Vielfalt wieder herzustellen und die Gouverneure wieder, wie es unter Jelzin üblich war, in der Region wählen zu lassen, statt sie von Moskau aus zu ernennen. Korruptionsanfällige Institutionen wie die Verkehrspolizei und das Innenministerium sollen aufgelöst und durch eine neu zu schaffende Kriminal- und örtliche Polizei ersetzt werden. Der Beitritt Russlands zur Nato ist ein weiterer Vorschlag.
Ulrich Heyden
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