Lettland

Sorge um die Versorgung

Die Weihnachtszeit dauert lange in Lettland. Während die Christen am 24. Dezember Heiligabend feiern, begehen Russisch-Orthodoxe das Weihnachtsfest 13 Tage später. So finden sich in Lettland auch nach Silvester Weihnachtsdekorationen und viele bunte Lampen auf den Straßen. Mitten drin steht ein kleiner, magerer Bursche mit großen Augen. Er fasst die Menschen an den Ärmeln und bittet um Almosen, doch vergebens.

Seit 15 Monaten steckt Lettland in der Wirtschaftskrise. Sie trifft vor allem Kinder und ältere Menschen, die an Straßenecken stehen und verschämt betteln. Knapp ein Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos. Familien geraten ins Wanken und haben es schwer, genügend Brot auf den Tisch zu bringen. Dabei beschränkt sich die Armut längst nicht mehr nur auf die Städte.

Nicht weit von Riga befindet sich das Dorf Tervete. Dorthin hat sich der junge lettische Bauernknabe Spriditis, eine Figur der lettischen Schriftstellerin Anna Brigadere, aufgemacht. Er erlebte in einem Elfenwald fantastische Abenteuer. Die Kinder des nahen Heims Kalkuni erfreuen sich heute an dieser Geschichte, doch der Kontrast zwischen Erzählung und bitterer Realität könnte kaum krasser sein.


In einem Rigaer Waisenhaus wechselt eine Sozialpflegerin die Windel eines Babys. Die Finanzlage der Waisenhäuser ist so dramatisch, dass die Beschaffung von Lebensmitteln und Windeln nur mit Spenden aufrechterhalten werden kann. Foto: Thorsten Chr. Pohlmann.

Die meisten Kinder in dem Heim sind Waisen und leben in einem heruntergekommenen Sozialbau, zusammen mit Senioren. Vor einigen Monaten hat es eine große Spende aus Norwegen gegeben, um die Etage, in der die Kinder wohnen, zu renovieren. Die Wände sind nun gelb gestrichen, sie sollen die fehlende Sonne ersetzen. Der lettische Winter ist dunkel, kalt und lang.

Bereits während der „Fetten Jahre“, als das Wirtschaftswachstum zuweilen zehn Prozent betrug, seien die Sozialetats in Lettland sehr bescheiden gewesen, sagt Lilija Gorbunova, Direktorin des Kinderheims Kalkuni. Schon damals reichten die Mittel in der Regel nur für die laufenden Kosten, nicht aber für Instandsetzungen. Die Finanzkrise habe den Druck auf soziale Einrichtungen nochmals stark erhöht. Der Bedarf an Spenden sei weiter gewachsen. Vor kurzem hat ein deutsches Unternehmen Betten und Schränke für das Kinderheim in Tervete gespendet.


Ein Mitglied der US Marine führt in einem Sozialbau in Ogre kleine Renovierungsarbeiten durch. Doch die Lebensumstände der Sozialbedürftigen sind oft so erbärmlich, das die Arbeiten kaum Wirkung zeigen. Foto: Thosten Chr. Pohlmann.

Im Treppenhaus spielen Kinder in dem kleinen Fahrstuhl. Er ist eines der beliebtesten Spielzeuge in der dunklen Jahreszeit. Diana, ein vierjähriges Waisenkind, lächelt beim Spielen. Sie hat gemeinsam mit ihrer Schwester und drei Brüdern Unterkunft im Heim gefunden. Hier kümmern sich Pädagogen, Ärzte und Therapeuten um sie, so gut es geht. Wer in ein Kinderheim kommt, hat oft eine dramatische Geschichte erlebt.

Der Platz im Heim gilt als Glück im Unglück, denn seit der Finanzkrise ist es keine Selbstverständlichkeit mehr, überhaupt einen Platz zu bekommen. Stattdessen sind die Sozialbehörden neuerdings angewiesen, Familienpflegerinnen in schwierige Familien zu schicken. Sie sollen das Leben dort ordnen. Die Pflegerinnen bringen Essen und schauen nach dem Rechten, ob die Kinder in die Schule gehen und ob der Alkoholismus der Eltern nicht zu schlimm wird.


Zwei Militärpfarrer beten gemeinsam mit einer Sozialarbeiterin vor dem Haus eines 23-jährigen Pflegebedürftigen. Die beiden Militärpfarrer haben mit einer Hilfsaktion die Wohnung wieder in einen wohnlichen Zustand gebracht. Foto: Thorsten Chr. Pohlmann.

Kritiker werfen dem neuen Programm vor, auf Kosten der Kinder zu sparen. Gerade Alkoholismus ist nach Aussage von Sozialarbeitern in Lettland weit verbreitet. Die Probleme der Kinder sind in den letzten zwei Jahren, seit die Finanzkrise Lettland schüttelt, nicht weniger geworden, sondern eher mehr. Die Mittel hingegen sind eindeutig weniger geworden.

Die Direktorin eines Kinderheims in Riga etwa erzählt, dass die ihr zur Verfügung stehenden Finanzmittel nicht ausreichend seien, um die ihr anvertrauten Säuglinge und Kleinkinder zu ernähren. Aus Angst um ihre Arbeitsstelle möchte sie ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen neben den Missständen, die sie aufzählt. Die Heizkosten verschlingen den Großteil des Etats, die Windeln gehen gerade aus, und dass die Säuglinge und Kleinkinder derzeit zu essen haben, sei nur einer großzügigen Spende zu verdanken. Wie es weiter gehen soll, weiß sie nicht. In der Finanz- und Wirtschaftskrise seien auch die Möglichkeiten der Spender kleiner geworden.

Kleiner ist auch der Staatsetat geworden. Das belastet hauptsächlich das Sozial- und Bildungswesen. Die zuständigen Ministerien kürzen oft nach dem Rasenmäher-Prinzip, und die Kommunen sollen das restliche Geld aufbringen. Doch seit der Kommunalreform im Sommer 2008 ist unklar, wer wofür zuständig ist. Die Kommunen sind am Rande der Zahlungsunfähigkeit, ebenso wie der Staat.


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