Ohne Waffe nach Sibirien
Russische Wehrdienstverweigerer sind in ihrer Heimat noch immer Exoten
(n-ost) – Sieben Uhr morgens: Dienstbeginn für Andrej Nasyrov. Auf einem Rollwagen bringt er Infusionsflaschen auf die Krebsstation des Kinderkrankenhauses von Perm, einer russischen Millionenstadt am Ural. Andrej sieht in seinem weißen Oberteil mit grüner Hose aus wie jeder andere Pfleger auch. Doch Andrjuscha, wie ihn Freunde und Kollegen rufen, ist in seiner Heimat ein echter Exot: Er gehört zu jener Handvoll junger Männer, die ihren Zivildienst in Russland ableisten und im Volksmund Alternatiwschtschiki heißen. „Ich bin ein gläubiger Mensch, und andere Menschen zu töten, das verbietet Gott“. Armee oder Zivildienst – für ihn habe sich diese Frage aufgrund seiner religiösen Grundsätze nicht gestellt.
Rund eine Viertelmillion junger Russen erhalten jährlich ihren Einberufungsbescheid, doch nur rund 1000 haben seit 2004 ihren Zivildienst absolviert, 1000 weitere sind gerade dabei, wie Andrej Nasyrov. Dass sich bislang nur wenige Wehrpflichtige für den Ersatzdienst entscheiden, hat viele Gründe: die Länge des Dienstes zum Beispiel. Bis vor zwei Jahren mussten russische Alternatiwschtschiki volle dreieinhalb Jahre Dienst tun. 2008 dann wurde der Zivildienst auf 21 Monate verkürzt, der Armeedienst dagegen auf ein Jahr.
Noch immer gilt zudem das so genannte exterritoriale Prinzip: Zivis, die in Moskau und St. Petersburg beheimatet sind, werden nach Sibirien oder in den Fernen Osten geschickt, und umgekehrt, erzählt Sergej Krivenko, Vorsitzender der Gesamtrussischen Koalition für einen Alternativen Zivildienst: „In Europa ist das schwer zu verstehen, aber in Russland haben wir einfach ganz andere Entfernungen“. Zudem würden viele der Zivis und jungen Rekruten krank, wenn sie aus dem europäischen Teil nach Sibirien geschickt werden oder umgekehrt.
Zuständig für die Organisation des Zivildienstes ist die russische Agentur für Arbeit und Beschäftigung „Rostrud“ mit Sitz in Moskau. Boris Demjankov, der Leiter der Abteilung für Zivildienst, hat eine Rechtfertigung für den heimatfernen Einsatz der Zivildienstleistenden: „Nehmen wir mal den Süden Russlands, das Gebiet um Krasnodar, Stawropol. Da gibt es einfach wenige Arbeitsmöglichkeiten für die Zivildienstleistenden“. Darum schicke man sie in andere Regionen, wo es Bedarf an solcher Arbeit gebe.
Ruslan Pschenko etwa hat eine Zivildienststelle bei der Moskauer Post, der 20-Jährige stammt jedoch aus der Stadt Armawir im Schwarzmeergebiet, über 1000 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt. Sein Dienstort wurde ihm zugewiesen, erzählt er bei einem Glas Cola in einem Moskauer Café – seine Dienststelle hat den Besuch eines Journalisten während der Arbeit abgelehnt. Ruslans Dienstantritt in Moskau verlief alles andere als glatt: Das fing an mit der Unterkunft, die ihm und einem Zivi-Kollegen von der russischen Post zugewiesen wurde: „Wir bekamen ein Zimmer in einem Wohnheim zugewiesen, das nur zwölf Quadratmeter groß war. Da waren aber acht bis zehn Leute untergebracht“. Dabei stehen jedem russischen Zivi qua Gesetz sechs Quadratmeter Wohnfläche zu, und pro Zimmer dürfen höchstens drei Personen untergebracht sein. Erst als Ruslan und sein Kollege sich gemeinsam mit Menschenrechtler Sergej Krivenko an die „Rostrud“ als zuständige Behörde wandten, änderte sich etwas an den untragbaren Zuständen. Jetzt müssen die beiden Alternatiwschtschiki zwar zwei Stunden Anfahrt aus einem Moskauer Vorort in Kauf nehmen, dafür wohnen sie nun in einer kleinen Zweizimmer-Dienstwohnung.
Der repressive Charakter des Gesetzes, das dann auch noch in vieler Hinsicht missachtet wird, ist aber nur ein Grund für den geringen Anklang, den der Zivildienst bei jungen Russen findet. Denn der ungebrochene Männlichkeitskult, der in Russland immer noch herrscht, ist nur schwer vereinbar mit einem sozialen Ersatzdienst in Krankenhäusern oder Altenheimen. „Zwar wissen alle Leute, dass in der Armee katastrophale Zustände herrschen“, erzählt Jens Siegert vom Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. „Auf der anderen Seite sind die Russen nach wie vor stolz auf ihre Armee, denn nur das Militär macht aus dir angeblich einen echten Mann“. Ein Widerspruch, den Jens Siegert psychologisch als eine „für Russland typische schizophrene Bewusstseinsspaltung“ wertet.
Dazu passt auch, dass nicht mehr als zehn bis fünfzehn Prozent der Wehrpflichtigen eines Jahrganges beim Militär landen. Um dem gefürchteten Armeedienst zu entgehen, bestechen die meisten Eltern ganz einfach Ärzte, um an ein gefälschtes Attest zu kommen – in Russland ist das schon seit Jahren gängige Praxis. Ein Licht auf die brutalen Zustände in der russischen Armee warf vor drei Jahren der Fall des Rekruten Andrej Sytschow, dem nach sadistischen Misshandlungen in seiner Kaserne beide Beine und die Genitalien amputiert werden mussten. Seine betrunkenen Folterer hatten ihn auf einen Stuhl gebunden und stundenlang auf die Beine geschlagen. Und das war nur ein Fall unter vielen, die zumeist nicht an die Öffentlichkeit dringen, sagen Kritiker wie Jens Siegert.
Trotzdem: Von einem Alternativen Staatsbürgerdienst haben die meisten Russen noch nie gehört: „Zivildienst? Das finde ich problematisch, sogar unsere Orthodoxe Kirche sagt ja, dass man im Ernstfall die Heimat verteidigen soll“, findet ein Mittvierziger, der vor einer Moskauer Metro-Station eine Zigarette raucht. „Schauen wir doch mal in die Geschichte. Den zweiten Weltkrieg haben wir nicht mit unserem Gewissen gewonnen, sondern mit unserer Armee. Ich habe auch zwei Jahre gedient, das war in Ordnung“, gibt sein Kollege zu bedenken. 200 Meter weiter sitzt eine Gruppe von Männern mit Bierdosen und Spielkarten in der Hand. Hier wird man beim Thema Armee und Zivildienst noch deutlicher: „Zivildienst? Das interessiert uns nicht. Alle, die ich kenne, haben bei der Armee gedient“, schimpft einer der Männer. „Das ist unsere russische Tradition, da hatten wir eine gute Zeit und Kameradschaft, haben Lieder gesungen“.
Andrej Nasyrov hat in Perm inzwischen vier Stunden Krankenhaus-Dienst hinter sich. Jetzt hat er Mundschutz und Handschuhe angezogen und desinfiziert die Glasscheiben der Intensiv-Station. Wer sich wie der 21-Jährige trotz aller Widrigkeiten für den Zivildienst entscheidet, arbeitet zumeist für einen wahren Hungerlohn. 200 Euro bekommt er pro Monat, das Geld geht komplett für Essen und Kleidung drauf. „Auch wenn mein Dienst fast zwei Mal so lange dauert wie der Armeedienst: Ich bereue meine Entscheidung nicht“.
Das sieht Ruslan Pschenko in Moskau genauso: „Wenn die jungen Rekruten aus der Armee entlassen werden, dann erkennen die eigenen Eltern ja ihre Söhne oft nicht wieder, das sind gebrochene Persönlichkeiten“. Auch die Sprüche von Kollegen weiß er inzwischen ganz gut zu kontern: „Ich sage dann immer: Mag ja sein, dass erst die Armee einen Mann aus dir macht, zum echten Mann wirst Du aber nur durch den Zivildienst“.
Christoph Kersting
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