Erinnerungen an Russlands Schocktherapie
Der umstrittene russische Wirtschaftsreformer Jegor Gajdar ist tot
(n-ost) – Der erste russische Fernsehkanal zeigte am Mittwoch Bilder von Jegor Gajdar im Dezember 1991, als er an der Seite von Präsident Boris Jelzin im weißrussischen Sanatorium Beloweschskaja Puscha an den Verhandlungen zur Auflösung der Sowjetunion teilnahm. Viele Russen haben diese Staatsauflösung, die, so die öffentliche Meinung, von Gorbatschow faktisch begonnen und von Jelzin und Gajdar zu Ende geführt wurde, bis heute nicht verwunden. Gajdar ist am Mittwoch in seiner Datscha gestorben.
Jegor Gajdar, der sich in den letzten Jahren aus der Politik zurückgezogen und auf die Arbeit in einem von ihm gegründeten Wirtschaftsinstitut konzentriert hatte, plagten schon länger gesundheitliche Probleme. Nach Meinung der Ärzte starb er an einer Thrombose, die sich gelöst hatte. Die Todesursache werde routinemäßig untersucht, hieß es aus russischen Sicherheitskreisen. Bereits im Herbst 2006 erlitt Gajdar in Irland eine Herzattacke.
Jegor Gajdar beschäftigte sich seit Beginn der 1980er Jahre in offiziellen staatlichen, aber auch in den damals existierenden halblegalen Kreisen von Jungakademikern mit Wirtschaftsreformen. Zu den Kreisen der Jungakademiker in Moskau und St. Petersburg gehörten Politiker, die wichtige Positionen innehaben oder -hatten, wie Anatolij Tschubais (er leitete 1992 die Privatisierung), Sergej Ignatew (seit 2002 Chef der russischen Zentralbank) und Aleksander Kudrin (seit 2000 russischer Finanzminister). In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde Gajdar Redakteur der Parteizeitungen „Prawda“ und „Kommunist“.
In der von Boris Jelzin 1991 gebildeten Regierung übernahm Gajdar den Posten des Finanzministers. Von 1992 bis 1994 war er mit kurzer Unterbrechung Ministerpräsident, musste diesen Posten jedoch aufgeben. Denn durch die von Gajdar im Januar 1992 angeordnete Freigabe der staatlich festgelegten Preise, die zu einer Inflation von 2.600 Prozent führte, verlor der Radikalreformer das Vertrauen der Bevölkerung. Sparguthaben und mühsam angesparte Renten verloren über Nacht ihren Wert. Die Bevölkerung, die von einem weichen Kapitalismus nach schwedischem Modell träumte, verstand nicht, was vor sich ging.
Der öffentliche Druck auf Gajdar nahm im Zuge der chaotisch laufenden Wirtschaftsreformen zu. Die Industrieproduktion ging zwischen 1989 und 1997 um 42 Prozent zurück. Ab 1994 widmete sich Jegor Gajdar seiner Arbeit als Duma-Abgeordneter und dem Aufbau der liberalen Partei „Demokratische Wahl Russlands“, die bei den Duma-Wahlen im Dezember 1993 mit 15 Prozent der Stimmen ihr historisch bestes Ergebnis eingefahren hatte.
Die Enttäuschung der Bevölkerung über die radikalen Wirtschaftsreformen hält bis heute an. Seit 2003 hat keine der kleinen, liberalen Parteien den Sprung in die Duma geschafft. Selbst bei einem liberaleren Wahlrecht und einer freien Presse hätten die liberalen Parteien in Russland nach Meinung von Beobachtern heute nur wenig Chancen, ins Parlament zurückzukehren.
Der letzte Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow zeigte sich vom Tod Gajdars tief betroffen, bekräftigte aber seine Kritik an dessen Politik. Gajdar habe alle Probleme des Landes auf einmal lösen wollen. Das sei ein Fehler gewesen. Wladimir Putin sprach in seinem Beileidstelegramm von einem „großen Verlust“ für Russland. Gajdar sei ein „echter Bürger und Patriot“ gewesen.
Vizepremier Igor Schuwalow erklärte, für die Entscheidungen Anfang der 1990er Jahre habe es „großen Mutes“ bedurft. Gajdars ehemaliger Weggefährte, der liberale Oppositionspolitiker Boris Nemzow, erklärte, der Verstorbene habe mit seinen einschneidenden Reformen Hunger und einen Bürgerkrieg verhindert. Auch westliche Wirtschaftsexperten und Vertreter des IWF hatten die Politik von Gajdar Anfang der 1990er Jahr als alternativlos bezeichnet.
Nach Meinung des liberalen Oppositionspolitikers Grigori Jawlinski und Michail Gorbatschows habe es Anfang der 1990er Jahre durchaus Alternativen zu Gajdars marktradikalem Weg gegeben. Dass es heute in Russland ein extremes Einkommensgefälle gibt und ein Drittel der Bevölkerung am Rande der Armutsgrenze lebt, habe auch etwas mit der Art der Wirtschaftsreformen zu tun, die Anfang der 1990er Jahre durchgeführt wurden, so die Gajdar-Kritiker.
Ulrich Heyden
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